Muss man bereits von einem Publikumsschwund sprechen? Fakt ist: Die Leute kommen zögerlich zurück in die Theater. Das Schauspielhaus Zürich etwa hat jeden vierten Abonnenten verloren. Sind das Nachwehen der Pandemie, oder spielen die Häuser am Publikumsgeschmack vorbei? Solche Fragen beschäftigen derzeit das Feuilleton.
Was sind die Gründe dafür? Klagen über fehlendes Publikum schwelen schon länger. «Mal werden sie lauter, mal wird eine handfeste Krise konstatiert», sagt SRF-Theaterexpertin Dagmar Walser. Die Pandemie sei ein Grund unter mehreren. «Wer hoffte, dass die Zuschauerzahlen schon in diesem Jahr wieder so hoch sind wie 2019, hat sich geirrt. Das betrifft aber nicht nur die Schweizer Theater.»
Hat die schlechte Auslastung auch künstlerische Ursachen? Die Sache ist komplex. Rückläufige Abo-Zahlen sind immer auch ein Zeichen für einen Wandel. «Schwankungsbewegungen gab es immer, gerade wenn eine neue Leitung an ein Haus kommt und sich ein Ensemble neu ausrichtet», sagt Dagmar Walser mit Blick auf Benjamin von Blomberg und Nicolas Steman, die 2019 die Intendanz in Zürich übernahmen. Wechsel in der Leitung seien für viele eine Umstellung – und für manche ein Grund für die Kündigung des Abos.
Welche Folgen hat die Pandemie? Viele haben gemerkt, dass es auch ohne oder mit weniger Theater geht – oder sie haben andere Freizeitangebote für sich entdeckt. Gerade für jüngere Generationen scheint ein Abo für ein einziges Haus nicht das richtige Angebot. «Sie entscheiden spontaner, punktueller, ob sie etwas interessiert», sagt Walser. Die Konkurrenz ist für die Theater grösser geworden. Zudem können sich schlicht nicht alle Tickets leisten oder kommen aus Familien, für die ein Theaterbesuch eine Selbstverständlichkeit ist.
Ist das Zürcher Schauspielhauses zu woke, wie manche Zeitungen monieren? Wokeness habe sich zu einem Schimpfwort entwickelt, das mittlerweile oft polemisch und ideologisch eingesetzt werde, sagt Dagmar Walser. Andererseits seien Diversität und Inklusion seit einigen Jahren wichtige kulturpolitische Leitplanken in den Leistungsverträgen mit den Theatern. «Diese müssen sich öffnen und können nicht mehr nur für das ‹elitäre Bildungsbürgertum› spielen», sagt Dagmar Walser.
Theater haben also einen gesellschaftlichen Auftrag? Ja, aber viele Theater ringen noch mit ihrer Rolle in der Gesellschaft. «Damit gehen auch ästhetische Entwicklungen einher, die nicht allen gefallen mag, die aber in einer zeitgenössischen Live-Kunst unabdingbar sind», so Dagmar Walser.
Stecken die Theater in einer Orientierungskrise? Zumindest müssen sie sich Fragen stellen, die auch gesellschaftspolitisch virulent seien, meint Dagmar Walser. Für wen spielen wir? Wen adressieren wir? Welche Geschichten erzählen wir? Vielleicht hätten sich gerade die grossen Theater zu lange zu sicher gefühlt. Da seien Transformationsprozesse im Gange, auf die es keine einfachen Antworten gebe. Klar ist für die Theaterexpertin nur: «Niemand spielt gerne vor einem halbvollen Theater oder sitzt in einem solchen als Zuschauerin.»