Die Zahlen sind eindeutig: Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung hat keinen Schweizer Pass und damit auch keine politischen Rechte. Ein Drittel hat Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Doch auf den Bühnen werden immer noch mehrheitlich die Geschichten der Mehrheitsbevölkerung erzählt.
Kulturinstitutionen müssen sich der Realität anpassen
Kaum sieht man im Schweizer Theater auf der Bühne Schauspieler, die keine weisse Hautfarbe haben, und wenn, dann werden sie allzu oft klischiert und stereotyp besetzt. Warum aber sollte nicht ein Schauspieler mit Migrationshintergrund Hamlet spielen? Weshalb sollte Gretchen nicht asiatisch aussehen?
Schon 2010 hat der deutsch-griechische Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinem Buch «Interkultur» darauf hingewiesen, dass sich die (Kultur-)Institutionen der gesellschaftlichen Realität anpassen müssen. Er forderte eine interkulturelle Öffnung der Gesellschaft.
Kulturpolitische Strategien
Die Schweizer Kulturpolitik hat die Zeichen der Zeit erkannt und «kulturelle Teilhabe» zu einem Schwerpunkt erklärt. Kulturelle Teilhabe ist in der Kulturbotschaft 2016-2020 verankert.
Kein städtisches Kulturleitbild kommt an diesem Thema vorbei. Das Bundesamt für Kultur hat sogar einen extra Fonds mit immerhin 750'000 Franken für Projekte geäufnet, die kulturelle Teilhabe ermöglichen. Zu klären, was der Begriff im Einzelnen konkret bedeuten kann und muss, wird die Aufgabe und Arbeit der nächsten Jahre sein.
Wandel von den Rändern
In der Praxis sind interkulturelle, postmigrantische Stimmen und Geschichten am ehesten in der freien Szene zu finden. Die Volksbühne Basel, das Maxim Theater oder das Experi Theater in Zürich arbeiten zwar schon seit Jahren an alternativen Narrativen, die die Vielfalt der Gesellschaft aufzeigen.
Oft aber werden sie von den Feuilletons und den Fördergremien als soziale und nicht als künstlerische Projekte wahrgenommen. Ein Gegensatzpaar, das wie die Gegenüberstellung von ihr und wir immer weniger produktiv wirkt.
Die Schweizer Stadttheater vermitteln dagegen einen weitgehend homogenen Eindruck – und spielen – auch deshalb – vor einem ebenso homogenen Publikum.
Neue Räume, neue Ästhetiken
In Berlin beweist Shermin Langhoff seit 2013 am Gorki Theater mit einem interkulturellen Ensemble, wie erfolgreich postmigrantisches Theater sein kann.
Letzten Herbst hat das Gorki Theater sogar ein Exil-Ensemble aus professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern aus Syrien, Palästina und Afghanistan gegründet.
Perspektivenwechsel auch am Schauspielhaus Zürich
Im Herbst wird es seine erste Produktion auch am Schauspielhaus Zürich zeigen: In «Winterreise» erzählen die Schauspieler und Schauspielerinnen von ihrem Leben im Exil und von einer Busreise durch Deutschland – und einem Abstecher in die Schweiz.
Der Perspektivenwechsel macht Geschichten hörbar, die abweichen von den üblichen Problemgeschichten in den Medien, wenn es um Flüchtlinge geht. Gutes Theater, eben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 05.07.2017, 09:02 Uhr