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Neufassung von Lukas Bärfuss Welttheater Einsiedeln: Hundertjährig und doch zeitgemäss

Seit 100 Jahren wird in Einsiedeln ein Welttheater aufgeführt. Lukas Bärfuss hat das christliche Erziehungsstück von Pedro Calderón zu einer packenden Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leben im Hier und Jetzt gemacht.

Wenn in Einsiedeln das Welttheater ansteht, ist fast die ganze Gemeinde involviert. Die 23-jährige Lilli Louise Borsos verkörpert die Rolle der erwachsenen Emanuela.

Emanuela, die Hauptfigur der aktuellen Aufführung, wird in jeder Lebensphase von einer anderen Laiendarstellerin gespielt: als Kind von Luana Thoma, als reife Frau von Rita Noser und als Greisin von Rosemarie Oechslin, in Einsiedeln besser bekannt als «Ringgi».

«Wir haben separat geprobt. Und plötzlich sehe ich, wie ich als Kind war. Das gibt nochmals eine neue Sicht auf mein eigenes Spiel», sagt Borsos beim ersten Stückdurchlauf auf dem Klosterplatz.

Das Leben, ein Schauspiel

Rosemarie Oechslin stand 1965 als 11-Jährige erstmals auf der Welttheater-Bühne und spielte später Hauptrollen. Ihr jüngster Part: die sterbende Emanuela.

Vergangenes Jahr wurde bei Rosemarie Oechslin ein Hirntumor diagnostiziert. Derzeit ist die knapp 70-Jährige stabil. Und doch hängt alles an einem seidenen Faden. Oechslin sinniert: «Das ist Welttheater: Ich bin jetzt als ‹Ringgi› auf dieser Welt und wenn ich nicht mehr spielen kann: C’est la vie.»

Oechslin wuchs in Einsiedeln auf und führte jahrelang ihre eigene Boutique im Klosterdorf. Ihre Leidenschaft galt – nebst Mode – stets dem Theaterspielen. Beim Probenbesuch wird schnell klar: Sie und das ganze «Spielvolk» sind mit Enthusiasmus dabei.

Regisseur Livio Andreina, der seit 40 Jahren Laien inszeniert, strahlt: «Mit Laien, die sich monatelang auf so eine Zusammenarbeit einlassen, entsteht eine gemeinschaftsstiftende Situation und dadurch auch mehr Sinnstiftung.»

Ein Jahrhundert Welttheater

1924 wurde «Das grosse Welttheater» des spanischen Dramatikers und Geistlichen Pedro Calderón in der Übersetzung von Joseph von Eichendorff erstmals vor der barocken Einsiedler Kirche in Szene gesetzt.

Das Stück ist ein Mysterienspiel, in dem sechs allegorische Figuren – die Schönheit, die Weisheit, der König, der Reiche, der Bauer und der Bettler – vom Meister ihre Rollen zugeteilt bekommen. Diese müssen sie bis zum Ende erfüllen. Im Jenseits wird abgerechnet.

Schwarzweissfoto: Kinderdarsteller mit schimmernden Kronen beim Welttheater.
Legende: Laiendarsteller in der Inszenierung von 1950: Das Welttheater ist seit 100 Jahren ein wichtiger Teil im Leben der Einsiedlerinnen und Einsiedler. KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Str

Was sich seit der Uraufführung ereignet hat, erzählt der frühere SRF-Journalist Walter Kälin anekdotenreich in seinem Buch «100 Jahre Welttheater in 100 Geschichten». Sein Grossvater, Franz Kälin, war einer der Gründungsväter und wurde zum ersten Präsidenten der «Gesellschaft der Geistlichen Spiele» ernannt.

Veranstaltungshinweis

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Die Jubiläumsausgabe des Welttheaters Einsiedeln wird vom 11. Juni bis 7. September aufgeführt

«Mein Grossvater war Postverwalter und Kantonsrat und hat das Welttheater in zwei Monaten auf die Beine gestellt», so Kälin. Zusammen mit Regisseur und Schauspieler Peter Erkelenz, Abt Ignaz Staub und Linus Birchler, der herausfand, dass der Klosterplatz nach akustischen Gesetzten gebaut worden war. Theater gespielt wurde darauf bis dahin aber nie.

Was 1924 nicht mitspielte, war das Wetter, die Premiere musste verschoben werden. Ab diesem Jahr kann das Wetter, zumindest dem Publikum, egal sein: Erstmals ist die Zuschauertribüne überdacht.

Die «Spielvolk»-Familien

Über 500 Laien engagieren sich ehrenamtlich vor und hinter der Bühne. Ein «Obolus» sei aber trotzdem Tradition, erzählt Hanspeter James Kälin, seit 2014 Präsident des Vereins: «Früher war dieser eminent wichtig. Auch bei uns zu Hause. Man hat darauf gewartet: Wann kommt das Welttheatergeld? Damit wurden auch Weihnachtsgeschenke gekauft.»

Theateraufführung mit riesiger Mantis-Puppe und Performern.
Legende: Beim Welttheater wirken hunderte Laiendarstellerinnen und -darsteller mit. Die Aufführung ist eine beeindruckende Gemeinschaftsleistung. SRF / René Alfeld

Grossvater, Mutter, Schwester: Die ganze Familie engagierte sich im Welttheater. Kälins Vater, Schneider von Beruf, war in Hauptrollen zu sehen und fertigte zu Hause Kostüme an. Er schmunzelt: «Im ganzen Haus flogen Frotteefötzeli herum. Es hat ausgesehen, wie wenn es schneit.»

Auch sein Namensvetter Walter Kälin erinnert sich voller Stolz: «Meine Mutter war die ‹Schönheit›, die ‹Weisheit› und zweimal die ‹Welt›. Sie hat als einzige alle drei weiblichen Hauptrollen gespielt.» Das war in den 50er- und 60er-Jahren.

Welttheater entlang der Weltgeschichte

Noch vor dieser Zeit, 1935 bis 1955, führte Oskar Eberle Regie. Er setzte das Freilichttheater opulent in Szene. Walter Kälin präzisiert: «Er hat dem Welttheater wirklich zum Durchbruch verholfen. Das war die erste richtig erfolgreiche Phase.»

Ab 1960 übernahm mit dem deutsch-schweizerischen Schauspieler und Regisseur Erwin Kohlund erstmals kein Katholik das Zepter – für einige Klosterbrüder ein Affront. Doch nicht nur von Seite des Klosters kam das Mysterienspiel unter Beschuss.

Schwarzweissbild: Abt gibt Papierrolle an eine junge Frau.
Legende: 1970 verteilte noch der Abt die Rollen an die Darstellerinnen und Darsteller. Seither hat sich das Einsiedler Welttheater von seiner kirchlichen Bindung gelöst. Keystone / STR

1970 wird Calderóns Spiel in einer Protestaktion am Tag der Premiere als unzeitgemäss angeprangert. Das «Theaterkollektiv Alternative» forderte ein grundlegendes Überdenken des Welttheaters, das von einer gottgewollten hierarchischen Ordnung ausgehe und so herrschende Machtverhältnisse legitimiere.  

Das Welttheater gerät in Bewegung

Im Jahr 2000, 30 Jahre nach der Protestaktion, bemühte sich die Welttheatergesellschaft um eine Neufassung des Spiels, das sich nicht mehr nur Calderón, sondern auch aktuellen Fragestellungen verpflichtet fühlt. Die revolutionäre Neuinterpretation mit Autor Thomas Hürlimann und Regisseur Volker Hesse, jetzt als «Das Einsiedler Welttheater», wird ein Erfolg.

Darstellende in einem Stück: Personen mit Bohrhämmern malträtieren eine Person in schneeweissem Kleid.
Legende: Das ging einigen zu sehr an die Nieren: Das «Welttheater» 2007 erntete Kritik von Konservativen. KEYSTONE/Urs Flueeler

Hürlimann und Hesse wirken 2007 ein zweites Mal in Einsiedeln. Doch aufgeblasene Kondome und Mönche, die sich von den Klostertürmen stürzen, sind konservativen Kreisen zu viel.

Nun hat Lukas Bärfuss Calderóns Stück neu interpretiert. Er lässt die 100 Jahre alten Welttheater-Figuren aufleben. Doch diese weigern sich, im heutigen Leben mitzuspielen. Nur die junge Emanuela lässt sich darauf ein, mit allen Konsequenzen. Sie wird alt, arm, reich, mächtig, schön, herzlich und herzlos. Den Autor, der das Volk dirigiert, jagt sie zum Teufel. Selbstbestimmung ist also das Credo. Am Ende bleibt die Frage: «Habe ich weise gehandelt?».  

Spielszene: Fünf Frauen schauen Zu, wie eine Frau mit Zylinder einen Mann wegführt.
Legende: Lässt sich auf das gegenwärtige Leben ein: Lilli Borsos als junge Emanuela (im weissen Oberteil). Welttheater / Ulrich Schulte

Rosemarie Oechslin wird als greise Emanuela auf der Bühne mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Sie sinniert: «Passiert es jetzt, was Bärfuss längst geschrieben hat?» Die Welt ist ein Theater. Und die Bühne wird in Einsiedeln – wie in den letzten 100 Jahren – zur Welt.

Das Welttheater Einsiedeln bei SRF

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Im TV:

Im Radio:

SRF 1, Kulturplatz, 5.6.2024, 22:25 Uhr

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