Ganz neu sind sie nicht mehr: Seit Sommer sind Hayat Erdogan, Julia Reichert und Tine Milz am Ruder des Theater Neumarkt im Zürcher Niederdorf. Sie sind überzeugt, dass sie die Leitung des geschichtsträchtigen Hauses erhalten haben, weil ihr Konzept überzeugte. Nicht weil sie Frauen sind.
Allerdings stellt Hayat Erdogan fest, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung auf das Frau-Sein reduziert werden. «Wir wurden oft gefragt, wie das sei, eine solche Leitungsposition als Frauen zu übernehmen.» Eine Frage, die man Männern so nicht stellen würde.
Ähnlich sieht es Michelle Akanji, die zusammen mit Rabea Grand und Juliane Hahn ab Sommer 2020 die Gessnerallee leiten wird. So divers, wie in den Medien dargestellt, sei das Team nicht. «Wir sind alle im deutschsprachigen Theaterraum sozialisiert worden, wir sind drei Frauen und in einem ähnlichen Alter.»
Trotzdem: Beide neuen, weiblichen Leitungsteams scheinen als Symbol für Diversität verstanden zu werden. Doch stimmt das?
Kein kulturpolitisches Kalkül
Die Teams haben sich aus Freundschaften und über gemeinsame Projekte gebildet. Nicht aus kulturpolitischem Kalkül. Man teilte auch die Unzufriedenheit darüber, wie es im Theaterbetrieb läuft.
«Anstatt zu jammern war es uns wichtig, in diese Strukturen reinzukommen. Es ist nicht mehr zeitgemäss, dass ein Betrieb wie die Gessnerallee von einer einzigen Person geführt wird», sagt Michelle Akanji.
Auch wollen sie durchaus auf Diversität setzen. Weil der Begriff «Diversität» mit Inhalt zu füllen ist, bilden sich die drei zukünftigen Leiterinnen weiter – mit einem Coaching in diversitätsorientierter Organisationsentwicklung.
Am Theater Neumarkt soll Diversität auf künstlerischer Ebene durch unterschiedliche Formate und gemischte Produktionsteams umgesetzt werden.
Divers sein? Selbstverständlich!
Sicher ist, die neuen Teams sind mit rund 30 Jahren im Durchschnitt jung und auf das Thema Diversität sensibilisiert. Es ist auch diese Hoffnung, die mit der Neubesetzung vom Theater Neumarkt und der Gessnerallee einhergeht – dass Diversität für eine jüngere Generation etwas Selbstverständliches ist.
Michelle Akanji und Hayat Erdogan bringen zudem durch ihre postmigrantische Herkunft eine erhöhte Sensibilität mit. Hayat Erdogan ist als Tochter türkischer Eltern in Deutschland aufgewachsen.
«In Deutschland war ich ‹die Türkin›. Hier bin ich ‹die Deutsche› – keine Ahnung, was passiert, wenn ich nach Frankreich ginge. Wäre ich dann ‹die Schweizerin›?», fragt Hayat Erdogan lakonisch.
Was heisst Herkunft?
Michelle Akanji ist als Tochter einer Schweizerin und eines Nigerianers in Zürich aufgewachsen. Sie beantwortet die Frage nach ihrer Herkunft je nach Situation mehr oder weniger detailliert. Und wundert sich, dass man bei ihr, der Einheimischen im neuen Leitungsteam, oft explizit erwähne, dass sie Schweiz-Nigerianerin sei.
Das zeigt, wie komplex es ist, über Diversität in Bezug auf Herkunft oder Hintergrund zu sprechen. Der Weg ist noch lang und nicht ohne Hindernisse. Doch das Bewusstsein für die Komplexität ist in den neuen Leitungsteams vom Theater Neumarkt und der Gessnerallee spürbar verankert.