Mittlerweile twittern es nicht nur die Spatzen von den Dächern; auch die vergreisende Filmkritik hat es gemerkt: Das beste Kino findet heute oft im Fernsehen statt. Nach David Lynch, Martin Scorsese, Michael Mann, David Fincher und anderen Cineasten haben Jane Campion und Garth Davis mit «Top of the Lake» sowie der Franzose Fabrice Gobert und sein Schweizer Ko-Regisseur Frédéric Mermoud mit «Les revenants» die Möglichkeiten der seriell verlängerten Erzählform genutzt.
Wiedergänger als Integrationsproblem
«Les revenants» illustriert den Gedanken, den Scorsese offenbar nach der Fertigstellung seines Pilotfilms zur Serie «Boardwalk Empire» geäussert hat: «Es ist toll! Endlich kann ich mal sehen, was mit den Figuren geschieht, nachdem der Film zu Ende ist.» Tatsächlich beruht die Serie «Les revenants» von «Canal+» auf dem gleichnamigen Film von Robin Campillo aus dem Jahre 2004.
Dessen Grundgedanke, dass längst Verstorbene plötzlich auftauchen und sich in ihrer einstigen Gemeinde und ihrer Familie wieder integrieren wollen, gibt mehr Stoff her, als sich in einem einzelnen Spielfilm unterbringen lässt.
Anders als die zerfallenden, blutgierigen Zombies in der Serie «The Walking Dead» erscheinen die Wiedergänger in «Les revenants» genau gleich, wie sie vor ihrem Tod gewesen waren: Nur wissen sie erst mal nicht, dass sie gestorben sind, haben immerzu Hunger, können nicht schlafen und verursachen Stromschwankungen.
Es geht also in dem abgelegenen Städtchen bei einem Staudamm nicht um Geister oder identitätslose Untote, sondern um die Wiederkehr des Verdrängten bzw. «unserer lieben Verflossenen» - hier insbesondere der Opfer eines tragischen Busunfalls vor mehreren Jahren, die sich zurückmelden und Fragen aufwerfen: Was ist geschehen? Wieso sind sie da? Wieso gerade sie und nicht andere? Wieso jetzt? Bleiben sie da?
Die diversen Angehörigen setzen sich mit dem rätselhaften Phänomen denn auch auf unterschiedliche Weise auseinander. Während die Lebenden und die Toten lernen, miteinander umzugehen, was zum Teil spektakulär misslingt, treibt ein Mörder sein Unwesen, der auch etwas mit dem Geheimnis der «Heimkehrer» zu tun hat.
David Lynch lässt grüssen
Das Ergebnis ist eine eigenwillige und faszinierende Mischung aus Psychodrama und einer aussergewöhnlich gelungenen Form von dem, was man «Mystery» nennt, wenn man jene schwebende Spielart der Phantastik meint, deren seltsame Ereignisse sich nicht ohne weiteres ins Übernatürlich-Unheimliche oder in die rationalistische Sciencefiction auflösen lassen.
Anklänge von David Lynchs wegweisender Serie «Twin Peaks» sind nicht ganz von der Hand zu weisen, aber «Les revenants» gehen dennoch ihren ganz eigenen Weg, demnächst übrigens in eine zweite Staffel und in ein Hollywood-Remake. Die Website dazu regt zum interaktiven Rundgang im heimgesuchten Städtchen an.
Wer hat hier was mit wem?
Die 12-jährige Tui geht ins Wasser und wird nur knapp gerettet. Bald zeigt sich in der siebenteiligen Serie «Top of the Lake», dass das Mädchen aus dem See schwanger ist, aber sie sagt nicht von wem. Die Polizistin Robin, die besuchsweise aus Australien in ihre neuseeländische Hinterwäldler-Heimatstadt Laketop zurückgekehrt ist, ermittelt und stösst auf eine Reihe von kuriosen und teilweise verdächtigen Figuren.
Dazu gehört Tuis Vater Matt Mitcham, der örtliche Drogenboss und Patriarch einer Familie von Tunichtguten, ebenso wie die weisshaarige Guru-hafte GJ, die am See ein Containerdorf für geschundene und verlorene Frauen eröffnet hat, das sie «Paradise» nennt. Bei ihren Nachforschungen über den Vater von Tuis Kind prallt Robin im Beziehungsgeflecht des Städtchens auf allerlei Widerstand und muss sich auch mit den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit herumschlagen.
Hochkarätige Besetzung
Jane Campion hat in ihren Filmen schon immer die Umwelt zur Charakterisierung ihrer Figuren beitragen lassen. Das Buschland, das in «Top of the Lake» den idyllisch anmutenden See umgibt, ist nicht minder dicht verwirkt wie das inzestuöse Netzwerk von Familienbanden und Ränkespielen unter den Anwohnern. Elisabeth Moss, die in «Mad Men» von der grauen Büromaus Peggy zur gefragten Werbetexterin mutiert, verkörpert in «Top of the Lake» die feinfühlige, aber bei Bedarf durchaus toughe Ermittlerin Robin.
Als ihr skrupelloser und zwielichtiger Gegenspieler Mitcham brilliert der Schotte Peter Mullan, der unlängst in Paddy Considines Kinofilm «Tyrannosaur» bewies, wie furchteinflössend er wirken kann. Nach ihrem Oscar-Film «The Piano» arbeitet Holly Hunter hier ein zweites Mal mit Jane Campion zusammen.
Für Hunter sind TV-Produktionen nichts Neues; in der übersinnlich angehauchten Krimiserie «Saving Grace» tobte sie sich drei Staffeln lang als sex-und alkoholbetriebene, von einem Engel heimgesuchte Fahnderin aus. Hier verleiht sie der abgespaceten Quasi-Schamanin GJ einen knallharten Kern.
Verwertungskaskade einmal anders
Normalerweise läuft die Verwertungskaskade im Filmgeschäft so, dass eine neue Produktion an einem Festival Premiere feiert, dann ins Kino kommt und nach DVD- und Video-on-Demand- bzw. Pay-TV-Auswertungen in Free-TV-Sendern wie SRF zur Ausstrahlung gelangt; entsprechend geschwunden ist das Publikumsinteresse oft, bis ein Kinofilm nach Jahren dieses letzte Glied der Kette erreicht hat. TV-Serien hingegen waren bisher der Originalstoff der produzierenden Sender, der ihnen ein exklusives und grösstmögliches Publikum bescherte, bevor es via DVD zu einer Zweitauswertung kam.
Dass Kabel- und Pay-Sender wie «Sundance Channel» und «Canal+» nun Eigenproduktionen wie «Top of the Lake» und «Les revenants» ans «Basler Bildrausch» und andere Filmfestivals schicken, wo Cüpli-trinkende FernsehverächterInnen sich in Stilettos ein Stelldichein geben, dient weniger der Publikumsmaximierung denn dem Prestigegewinn. Und den haben diese beiden Ausnahmeproduktionen verdient. Das eigentliche Zielpublikum wartet solange geduldig zuhause auf dem Sofa, in seinen Pantoffeln.