Das Interesse an nacherzählten Verbrechen ist nicht neu. In der Filmkunst etwa etablierte sich das Genre früh: Im Kurzfilm «L’Assassinat du duc de Guise» von 1908 stellte eine kostümierte Truppe die historisch verbürgte Ermordung eines Herzogs nach. Kein Einzelfall: «True Crime» boomte bereits, als die Bilder laufen lernten.
Populärer Grusel bei «Aktenzeichen XY»
In der Geschichte des deutschsprachigen Fernsehens gab es im Jahr 1967 einen einschneidenden True-Crime-Moment: Die ZDF-Produktion «Aktenzeichen XY … ungelöst» ging auf Sendung.
Der makabre Grusel mit nachgespielten Kriminalfällen zog am Freitagabend die Massen vor die Mattscheibe – pikanterweise immer mit der Bitte, sachdienliche Hinweise einzureichen.
Als «Denunziantenstadl» wurde die Sendung verunglimpft, als eine Jagd auf Menschen. Das ZDF musste sich die Vorwürfe anhören, die True-Crime-Produktionen bis heute begleiten: Reale Gewalt würde zu Unterhaltungszwecken missbraucht. Es werde reine Sensationslust bedient.
«Dahmer»: neue Show, alte Vorwürfe
Solche Vorwürfe richteten sich in den letzten Wochen auch gegen Netflix. Der Streaming-Gigant bricht zurzeit Rekorde mit «Dahmer» einer fiktionalisierten Serie über den US-Serienmörder Jeffrey Dahmer. Das Feuilleton verteilt Schelte: Menschenverachtend sei das, geschmacklos – und unangebracht kommerziell obendrein.
Auch Angehörige von Dahmers Opfern stimmten in die Kritik ein. Sie seien nicht zu ihren Sichtweisen befragt worden. Ihr Leid werde ausgeschlachtet. Bei der Produktion von True Crime sollte daher immer bedacht werden: Nach Gewaltverbrechen bleiben betroffene Menschen zurück. Ihnen gebührt Respekt – und vor allem ein Mitspracherecht.
Die Angehörigen einbeziehen
Wie sieht das jemand mit True-Crime-Erfahrung? Der Regisseur Marc Gieriet hat einen zweiteiligen SRF-Dokumentarfilm über den Schweizer Kindsmörder Werner Ferrari gedreht. Dafür hat er auch Angehörige der Opfer kontaktiert. Dazu muss man wissen: Ferrari lebt noch. Und die Angehörigen der fünf von ihm erdrosselten Kinder sind zahlreich.
Gieriet bestätigt die heiklen Aspekte des Unterfangens: «Wir wussten, dass im Kontakt mit den Angehörigen die Gefahr einer Retraumatisierung bestand. Wir mussten behutsam vorgehen und sie davon überzeugen, dass unsere Absichten gut sind.»
Keine Plattform für den Täter
Gute Absichten, das heisst für Gieriet: kein Voyeurismus. Und vor allem: dem Täter keine Plattform zur Rehabilitierung bieten. Ferrari hatte zwar eine schwere Kindheit in Jugendheimen. Aber diese in einen direkten Zusammenhang mit seinen Verbrechen zu stellen, wäre absolut unzulässig: «Viele Menschen erleben Gewalt in ihrer Jugend und bringen deswegen keine Kinder um.»
Gleichzeitig fügt Gieriet an: «Es war uns trotzdem wichtig, zu zeigen, wie er aufwuchs. Auch aus Fairness ihm gegenüber.»
Ausgewogen muss es sein
Diese Fairness ist ein zusätzlicher Balance-Akt beim Produzieren von True Crime: Fairness gegenüber den Opfern, aber auch gegenüber dem Täter.
Nur wenn das gewährleistet ist, schafft True Crime letztlich das, wofür das Format gedacht ist, und wofür es so geschätzt wird: Das Publikum soll Gewalt und die Geschichten dahinter besser verstehen. Nur so erlernt es den Umgang damit.