Eine Frau liegt unten ohne auf einer Liege. Neben ihr sitzt Alice Schwarzer und unterhält sich mit ihr. Während ein Arzt bei der Frau gerade eine Abtreibung vornimmt.
Dieser unaufgeregte Beitrag sollte 1974 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden. Die Abtreibung war da zwar seit zwei Jahren erlaubt. Diese schonende Absaugmethode war aber bisher noch nicht durchgeführt worden.
Der Beitrag wurde damals kurz vor der Ausstrahlung zurückgezogen. Im neuen Dokumentarfilm «Alice Schwarzer» wird er aber gezeigt.
Feminismus in den Mainstream geholt
«Einer der grössten Verdienste von Alice Schwarzer ist, dass sie den Feminismus in den Mainstream geholt hat», sagt Sabine Derflinger. Die 59-jährige Regisseurin hat den ersten Dokumentarfilm über sie gedreht.
«Alice Schwarzer hat den Feminismus zum Gesprächsthema gemacht. Und so viele Veränderungen angestossen.» Darunter auch die Legalisierung und erste Enttabuisierung der Abtreibung.
Rassismus und Trans-Feindlichkeit
Doch auch aus feministischen Kreisen wird Alice Schwarzer kritisiert. Zum einen wird ihr Rassismus vorgeworfen. Denn Schwarzer setzt sich für ein generelles Kopftuch-Verbot ein. Manche finden, damit spräche sie muslimischen Frauen die Selbstbestimmung ab.
Ein weiterer Kritikpunkt: Ihr Umgang mit Transmenschen. Sie widersprächen dem Ziel des Feminismus, findet Alice Schwarzer. Da sie Geschlechterrollen nicht abschaffen würden, sondern neue dazukommen.
«Sie hat viel für den Feminismus gemacht», sagt LGBTQ+-Aktivistin Anna Rosenwasser über Alice Schwarzer. «Doch man kann sich nicht Feministin nennen, wenn man Transmenschen ihre Existenz und Würde abspricht. Wir wissen heute, dass Frau-Sein nicht vom Körper abhängig ist, sondern von der Identität. Das bestätigen viele Bereiche der Wissenschaft. Alice Schwarzer hat diese Erkenntnis leider verpasst.»
Im Film werden diese umstrittenen Punkte kaum thematisiert. Das ist schade. «Alice Schwarzer» zeigt spannende Rückblicke. Mehr kritisches Hinterfragen hätte den Film aber interessanter gemacht.
Kritikerinnen wollten nichts sagen
Die Verhüllungs-Debatte wird zwar aufgegriffen, kritische Stimmen kommen jedoch nicht zu Wort. «Ich habe Kritikerinnen angefragt», sagt Regisseurin Derflinger. Doch leider habe keine mitgemacht.
Die Transgender-Debatte komme nicht im Film vor, da dieser bereits fertiggestellt gewesen sei, als die Debatte Fahrt aufgenommen habe. Überhaupt findet die Regisseurin es schade, dass sich Feministinnen gegenseitig kritisieren, statt am gleichen Strang zu ziehen.
«Absurd zu denken, dass alle das Gleiche wollen»
Dem widerspricht die Geschlechterforscherin Fabienne Amlinger von der Uni Bern. «Der Feminismus ist eine riesige Bewegung, die es seit 250 Jahren gibt. Mit unterschiedlichen Protagonistinnen, unterschiedlichen Themen. Es ist absurd zu denken, dass alle das Gleiche wollen und denken.»
In den letzten 50 Jahren habe sich im Feminismus einiges geändert. Einige der Hauptanliegen von früher wurden erreicht – darunter das Frauenstimmrecht. Dafür sind neue Themen in den Fokus gerückt. Zum Beispiel der queere Feminismus, also der Kampf für die Rechte aller Geschlechtsidentitäten.
«Der Feminismus hat mich gelehrt, kritisch zu bleiben und Widerstand zu leisten, wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin», sagt Anna Rosenwasser. «Das gilt auch, wenn ich mit anderen feministischen Personen nicht einverstanden bin.»
Kinostart: 12.5.2022