Jolanda Rupli steigt mit einer schwarzen, stabilen Plastiktasche von der hohen Leiter. Fünf Schleiereulen hat sie aus dem Nistkasten geholt. Erschrocken fauchen die Nachtvögel, die sie aus dem Schlaf geschreckt hat.
Die 28-jährige Lehrerin und ihr Freund Lorenz Kappeler packen ihren Werkzeugkoffer aus. Sie wiegen den ersten Vogel: 336 Gramm. Die flaumigen Jungvögel stinken zum Himmel: Schleiereulen liegen auf ihrem eigenen Kot und dem Gewöll, das sie auswürgen.
Für die Vogelwarte Sempach notiert Jolanda Rupli das Gewicht und die Flügellänge des Vogels. Dann nimmt sie einen Aluminiumring von einer Kette und befestigt ihn behutsam um das Bein der jungen Schleiereule, die in den Händen von Lorenz Kappeler liegt.
Auf dem Ring steht: Sempach Helvetia, M053527. Wer den Ring findet oder ihn sonst abliest, kann ihn oder nur die Nummer an die Vogelwarte mit der Kurzadresse «Sempach Helvetia» senden.
Beringen für den Artenschutz
«Wir haben so manchen Briefumschlag mit der Ringnummer erhalten», erinnert sich Lukas Jenni, der bei der Vogelwarte 20 Jahre lang die Beringungszentrale geleitet hat. «Der Pöstler hat die Ringnummer durchgestrichen und die Postleitzahl von Sempach darauf geschrieben. Uns interessierte natürlich die Ringnummer.»
Als die Vogelwarte vor 100 Jahren gegründet wurde, stand das Beringen der Vögel im Zentrum. Die Ornithologen erhofften sich von Ringfunden Aufschlüsse über den Vogelzug. Zugvögel fliegen sehr hoch und meistens nachts, deshalb wusste man lange wenig über ihren Zug.
Radar-Echos förderten seit Mitte der 1950er-Jahre jedoch wesentlich mehr Informationen über den Vogelzug zutage. Heute kommen winzige Sender und sogenannte Geo-Lokatoren zum Einsatz, die die Lichtintensität messen.
Jeder vierte Vogel bedroht
Der Vogelzug hält Forschende bis heute in Atem. Doch auch andere Themen stehen im Zentrum: intensive Landwirtschaft, Lebensraumverlust und der Klimawandel setzen so mancher Vogelart zu.
In der Schweiz ist jeder vierte Vogel bedroht. Deshalb wird an der Vogelwarte neben der Forschung auch der Vogelschutz grossgeschrieben. Die Forschung soll Resultate liefern, aus denen sich Massnahmen zum Schutz der Vögel ergeben. Ob diese umgesetzt werden können, steht auf einem anderen Blatt.
Unterdessen hat Jolanda Rupli alle Schleiereulen beringt. Nun bringt sie drei fast ausgewachsene Turmfalken. Sie hält die Tiere am Rücken und um die Flügel, sodass die Klauen und der spitze Schnabel von ihr weg schauen. Trotzdem bekommt sie einige Kratzer ab.
Falken und Eulen brüten wieder erfolgreich
Turmfalken sind Höhlenbrüter. Schleiereulen brüteten in Hohlräumen im Gemäuer von Bauernhöfen und Türmen. Bei Renovationen oder Neubauten gingen die Nistplätze verloren, deshalb brauchen die beiden Arten Nistkästen, um darin zu brüten. Dank dieser Massnahme haben sie in der Schweiz wieder einen guten Bruterfolg. «Hier im Bernbiet nehmen die Schleiereulen sogar zu», sagt Rupli.
Mit einem Ehrenamt hat in Sempach alles angefangen. Der erste Leiter, Alfred Schifferli, arbeitete ehrenamtlich in seinem Privathaus, unterstützt von Frau und Kind.
Ihre heutige Grösse verdankt die Vogelwarte den gut 200’000 Gönnerinnen und Gönner sowie den 2000 Freiwilligen. Heute arbeiten rund 200 Personen für die Vogelwarte. «Für jeden der 200 Brutvögel in der Schweiz eine», schmunzelt der aktuelle Leiter Matthias Kestenholz.