Im letzten halben Jahrhundert hat die Schweiz in Sachen Gleichberechtigung eine Revolution erlebt. Und doch: Die Geschlechtergerechtigkeit ist noch lange nicht erreicht.
Frauen verdienen immer noch weniger Lohn als Männer, übernehmen einen grossen Teil der unbezahlten Care-Arbeit und erfahren weitaus häufiger häusliche Gewalt – um nur einige Beispiele zu nennen.
Wir fragen deshalb drei Frauen und einen Mann: Wie sähe eine ideale Schweiz im Jahr 2071 aus – in Bezug auf Sexualität, Arbeit, Gesellschaft und Geschlechtsidentität.
Sexualität
Talaya Schmid, Künstlerin
Oft höre ich, unsere Gesellschaft sei übersexualisiert – aber das stimmt nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der weiblich gelesene Körper sexuell aufgeladen werden, um Autos, Zahnbürsten oder Katzenfutter zu verkaufen. Mit Sexualität hat das aber wenig zu tun. Die Körper in der Werbung können ja nicht begehren, fühlen oder schmecken.
Mein Wunsch ist daher, dass wir die Sexualität in Zukunft wirklich als Teil unserer Kultur begreifen. Ich träume davon, dass man beim Small Talk genauso selbstverständlich sagen kann: «Sorry, ich muss los, ich habe noch einen Vulva-Erkundungs-Workshop», wie man heute sagt: «Sorry, ich muss los, ich habe noch Yoga.»
Ich wünsche mir, dass die Leute wissen, was genau bei einem Orgasmus passiert und dass die Klitoris 8000 Nerven- und Sinneszellen hat. Denn: Wissen ist Macht. Und die Erkundung der Lust ein feministischer Akt.
Unsere eigenen Körper besser zu kennen hilft, unsere Bedürfnisse und Grenzen besser zu verstehen – und zu kommunizieren. Mir ist wichtig, dass wir einen Umgang mit Sex lernen, der uns befähigt, bewusste Entscheidungen zu treffen.
Und das fängt früh an. Ich bin zum Beispiel mit der Annahme aufgewachsen, dass Jungs alles über Sex wissen müssen, während sich Mädchen am besten nicht dafür interessieren. Aber: Wie sollen wir da je zueinanderfinden?
Wenn ich mir vorstelle, wie die Welt im Idealfall in 50 Jahren aussieht, würde ich sagen: Es ist eine Welt, in der ein Fleck Periodenblut auf der Hose genauso wenig schamvoll ist wie ein Fleck Rotwein. Es ist eine Welt, in der Sex riechen und Geräusche machen darf, und nicht nur diese ästhetisierte Art von «sexyness» akzeptiert ist.
Aber vor allem ist es eine Welt, in der nicht nur die Lust zwischen weissen, heterosexuellen, dünnen cis-Personen sichtbar ist, sondern die Vielfalt von Körpern und Praktiken zelebriert wird.
Und falls ich noch einen Wunsch übrig habe: Wir brauchen dringend ein Äquivalent zum Verb «penetrieren» für Menschen mit einer Vulva. Ich sage immer «überstülpen», aber ich glaube, da finden wir noch ein besseres Wort.
Arbeit
Kathrin Bertschy,
Nationalrätin, Co-Präsidentin Alliance F
Was in den nächsten paar Jahrzehnten noch geschehen muss? Ich will, dass die Bruchlinien zwischen den Geschlechtern verschwinden, damit alle – ohne Einschränkungen – ihrer Berufung nachgehen können.
Ich will, dass Kinderbetreuung nicht mehr automatisch vor allem Sache der Frau ist. Und: Ich wünsche mir, dass Frauen im Alter nicht arm sind. Heute haben sie im Vergleich zu den Männern jährlich 20’000 Franken weniger Rente.
In 50 Jahren sind wir, ich bin sicher, viel weiter. Macht wird anders verteilt sein, es werden andere Lebensentwürfe möglich sein – ein Frauenmehr im Bundesrat wird genauso wenig Aufsehen erregen wie eine Präsidentin in den USA.
Aber bis dahin braucht es dringend noch ein paar gesetzliche Anpassungen: Etwa eine Elternzeit zu gleichen Teilen und eine familienexterne Kinderbetreuung, die erschwinglich ist. Fast nirgends auf der Welt ist diese so teuer wie bei uns. Die Kosten übersteigen schnell mal das zweite Einkommen eines Paars. So lohnt sich Arbeiten für viele Frauen schlichtweg gar nicht – und sie müssen sich zwischen Beruf und Kindern entscheiden.
Und was die Steuern angeht: Heute lohnt es sich bei verheirateten Paaren für die Person mit dem geringeren Einkommen oft überhaupt nicht zu arbeiten – und das ist leider in den allermeisten Fällen noch immer die Frau. Dadurch, dass für die Besteuerung beide Einkommen zusammengezählt werden, wird das Geld der Frau quasi weggesteuert.
Die Schweiz braucht also eine Individualbesteuerung in der Ehe. Denn: Mit dieser lohnt sich arbeiten für beide!
Und ganz zentral ist, dass wir gleich lange Spiesse schaffen auf dem Arbeitsmarkt: Heute sind es Mütter, die ausfallen – daran ändern auch die zwei Wochen Vaterschaftsurlaub nichts.
Die Gesetzgeberin gibt eine einseitige Mutterschaftsversicherung von 14 Wochen vor und delegiert damit die Verantwortung für die Säuglingsbetreuung an die Frau, während der Mann offenbar unabkömmlich ist am Arbeitsplatz.
Wie sollen Frauen so ihre Stelle wieder aufnehmen? Sie brauchen auch den Vater des Kindes, der zu Hause Verantwortung übernimmt.
Trotz bin ich hoffnungsvoll. Ich denke, wir werden bereits in 20 Jahren denken: «Läck, wie altbacken war die Schweiz damals!»
Gesellschaft
Serena O. Dankwa, Sozialanthropologin
Eine Vision für die Schweiz im Jahr 2071 formulieren? Ich wünsche mir, dass wir in 50 Jahren gar nicht mehr auf nationale und andere Grenzen angewiesen sind. In meiner Utopie ist dieses «Böxli-Denken» bis dann obsolet.
Etwas, was der Gleichstellung heute im Weg steht, ist schliesslich, dass wir Menschen oft auf einen Aspekt reduzieren und sie nicht in ihrer Einzigartigkeit erkennen. Ich wohne zum Beispiel in einem Kollektiv mit 20 Leuten zusammen und da ist es klar, dass die non-binäre Person andere Bedürfnisse hat als die Frau, die mit ihrem Sohn geflüchtet ist.
Diese Art von Zusammenleben braucht viel Zeit und Arbeit. Aber nur so kann echte Solidarität entstehen.
Für mich steckt in alltäglich gelebten Freundschaften und Komplizinnenschaft viel Potenzial für Gleichberechtigung. Wenn wir einander wirklich zuhören – selbst, wenn mir zum Beispiel eine andere Aktivistin vorwirft, ich spreche zu akademisch und grenze sie mit meinen Privilegien aus – entsteht Empathie.
Oder anders gesagt: Indem wir lernen, in Gesprächen nicht sofort in die Abwehrhaltung zu gehen, tragen wir unseren Teil dazu bei, die Gewalt in der Gesellschaft zu reduzieren.
Wenn wir von Gleichberechtigung reden, bin ich ausserdem der Meinung, dass Rechte für alle gelten müssen und nicht nur für wenige. Schon die ehemals versklavte Sojourner Truth fragte 1851: «Bin ich denn keine Frau? Was soll denn ein Frauenstimmrecht für ein Recht sein, wenn es nur für weisse Frauen gilt?» Noch heute werden die vulnerabelsten und illegalisierten Personen nicht mitgedacht, wenn es um Selbstbestimmung und Entfaltung geht.
Konkret wünsche ich mir daher, dass im Jahr 2071 Sozialhilfebezügerinnen nicht mehr um ihren Aufenthaltsstatus bangen müssen, dass ausbeuterische Arbeitsverhältnisse der Vergangenheit angehören und alle Menschen, die in der Schweiz leben, vollumfänglich mitgestalten können, also ein Stimm- und Bleiberecht haben. Und ich wünsche mir, dass queere Kollektive und Familien die gleichen Rechte haben wie heteronormative Zweielternfamilien.
Kurz, ich wünsche mir, dass wir 2071 auf einem Planeten leben, der sich vom Raubkapitalismus erholt hat und auf dem jedes Lebewesen wertvoll ist.
Geschlechtsidentität
Tobias Urech, LGBTIQ-Aktivist
Ich fand es schon immer irritierend, dass Männer so «hart» sein müssen – zu sich und zu anderen. Diese Rollenvorstellung hat für mich nie gepasst.
Daher sehnte ich mich danach – trotz meines Geschlechts –, mehr Facetten zeigen zu können. Und so wagte ich den Schritt, meinen Drag-Alter-Ego «Mona Gamie» zu entdecken. Es fühlte sich an wie eine Befreiung.
Aber da ja nicht die ganze Gesellschaft Drag machen kann, ist es wichtig, dass sich das Männerbild in den nächsten Jahrzehnten allgemein entwickelt: So wünsche ich mir, dass Männer einst weinen und über Gefühle sprechen dürfen – ohne als «Weichei» dazustehen.
Das ist enorm wichtig, denn eine starre, machoide Vorstellung davon, wie ein Mann zu sein hat, kann sich schnell in Gewalt entladen. Gegen andere, oder sich selbst. So ist die Selbstmordrate bei Männern – vor allem bei schwulen Jugendlichen – tragisch hoch.
Wenn man die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern bekämpfen will, so bin ich überzeugt, müssen sich also auch die Männer bewegen. Aber da sich viele Männer vermutlich nie eingestehen würden, dass auch sie von patriarchalen Vorstellungen eingeengt werden, braucht es dringend ein gesellschaftliches Umdenken.
Wenn ich an die Zeit von meinem Coming-out vor zehn Jahren zurückdenke, bin ich aber immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Welt in kürzester Zeit verändert hat. In der Popkultur, der Politik und im Sport gibt es heute viel mehr Repräsentationen verschiedener Geschlechter und sexueller Orientierungen. Dass sich in der Schweiz zum Beispiel ein Schwinger wie Curdin Orlik als schwul outet, wäre doch vor Kurzem noch völlig undenkbar gewesen!
Ich hoffe, dass es die neuen Vorbilder den queeren Jugendlichen wenigstens ein bisschen leichter machen, zu sich zu stehen. Auch wenn ich durch meinen Aktivismus weiss, dass das nicht immer einfach ist.
Und zu guter Letzt: Ich hoffe, dass wir bis im Jahr 2071 noch neuere, kreativere Formen gefunden haben, Familie, Freundschaft und Liebe zu leben. Die «Ehe für alle» wird hoffentlich bald umgesetzt und das ist ein wichtiger erster Schritt. Aber ich bin mir sicher: Da geht noch mehr.
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Und was denkt ihr, liebe Userinnen, lieber User: Was muss sich bezüglich Geschlechtergerechtigkeit in den nächsten 50 Jahren noch ändern?
Wir sind gespannt auf eure Ideen im Kommentarfeld.