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«50 plus» und Filterblasen Was können wir tun, wenn Ältere sich radikalisieren?

Wenn über Radikalisierung gesprochen wird, denkt man oft zuerst an Junge. Doch heute melden sich bei Beratungsstellen auch oft Menschen, weil ihre Eltern oder andere ältere Angehörige zu radikalen Weltbildern gefunden haben. Mit Sarah Pohl, Co-Autorin des Buches «Abgetaucht, radikalisiert, verloren? Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen», haben wir darüber gesprochen, woher diese Radikalisierung kommt – und gefragt, wie man damit umgehen kann.

Sarah Pohl

Heilpraktikerin für Psychotherapie

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Dr. Sarah Pohl ist diplomierte Pädagogin, systemische Paar- und Familienberaterin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg (Zebra BW). Das multiprofessionelle Team aus den Bereichen Psychologie, Pädagogik und Medizin berät zu Fragen von Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Sarah Pohl ist zudem als Referentin und Autorin in diesem Themenfeld tätig.

SRF: Wie sind Sie auf die Problematik der radikalisierten Älteren aufmerksam geworden?
Sarah Pohl: Unsere Beratungsstelle gibt es jetzt das sechste Jahr – wir haben quasi mit Corona unsere Pforten geöffnet. In dem Zusammenhang haben sich sehr viele Angehörigen an uns gewandt und gesagt: ‹Hey, meine Lieben haben sich irgendwie radikalisiert, die glauben an Verschwörungstheorien.›

Es haben sich überwiegend junge Menschen gemeldet – wegen ihrer Eltern.

Es sind aber nicht die Eltern, die sich melden, sondern es ist genau andersrum. Es haben sich überwiegend junge Menschen zwischen 20 und 40 gemeldet, wegen ihrer Eltern oder anderen älteren Angehörigen.

Welche Faktoren sehen Sie als Triebfedern der Radikalisierung in der Generation 50plus?

Wir haben festgestellt, dass Einsamkeit ein Stück weit anfällig macht. Denn Verschwörungsglaube kann hier ein Gefühl von Zugehörigkeit mit Gleichgesinnten vermitteln. Selbstwert kann ein weiteres Thema sein. Denn, es wertet unheimlich auf, wenn ich zu denen gehöre, die ‹das System durchschaut› haben. Aber es sind auch Themen wie Lebensumbrüche und Bedeutsamkeitsverlust, die relevant sein können.

Was auch als wichtiger Faktor dazukommt, sind Gesundheitsthemen. Unsere Körper bauen im Alter einfach ab und desto stärker setzen wir uns noch mal mit Gesundheitsthemen auseinander. Und genau deswegen verfangen eben alternativmedizinische Hypothesen, die vielleicht in einer ablehnenden Haltung gegenüber Pharmaindustrie oder dem Staat gründen.

Was bedeutet «Radikalisierung»?

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Sarah Pohl bezeichnet mit Radikalisierung einen Prozess, der Personen in ein mehr oder weniger geschlossenes weltanschauliches System führt. Verbunden damit ist eine Abschottung von dem, was gesamtgesellschaftlich als Meinung oder als Wissensbestand vertreten wird.

Betroffene befinden sich einer Art Filterblase, die sie zunehmende von anderen Personengruppen trennt. Hinzu kommen dann auch noch Tendenzen zu extremen Ideen und Anschauungen.
In der Beratungsstelle Zebra BW wird beobachtet, dass dann demokratische Grundwerte nicht mehr geteilt werden und zum Teil auch Fremdenfeindlichkeit und Sündenbockdenken zunimmt, wie es aus zahlreichen Verschwörungstheorien bekannt ist.

Worin sehen Sie weitere Einflussfaktoren?

Ein wichtiges Stichwort ist Medienkompetenz. Denn die nimmt im Alter ab. Häufig fällt es schwer, einzuschätzen, was stimmt von dem, was ich da lese. Personen, die nicht so eine Mediensozialisation durchlaufen haben, wie zum Beispiel junge Menschen, sind hier anfälliger. Junge Menschen wachsen mit digitalen Medien, mit sozialen Medien auf und haben ein ganz anderes Bewusstsein darüber, wie schnell sich Sachen auch faken lassen.

Wie können wir alle unterstützen und entgegenwirken?

Der wichtigste Punkt ist, Bedürfnisse, Ängste und Hintergründe zu verstehen. Warum hat sich ein Weltbild so entwickelt? Warum hat sich jemand so abgekehrt? Der zweite Punkt ist: Ich kann durchaus hart auf der Sachebene bleiben, aber ich versuche, weich auf der Beziehungsebene zu bleiben.

Bedürfnisse zu verstehen, hilft, zu neuen Handlungsstrategien zu kommen.

Das heisst, Fragen zu stellen wie: Was macht dir Angst? Wo hast du Vertrauensverlust erlebt? Fühlst du dich einsam? Bedürfnisse zu verstehen, hilft auch, zu neuen Handlungsstrategien zu kommen.

Die Situation in der Schweiz

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Die evangelische Fachstelle Religionen, Sekten und Weltanschauungen Relinfo in Rütti (ZH) stellt eine ähnliche Situation in der Schweiz fest, die sich mit den Wahrnehmungen von Zebra BW deckt.

Zwei bis drei Dutzend Mal im Jahr melden sich dort Angehörige mit vergleichbaren Anliegen. Relinfo-Leiter Georg Schmid bemerkt, dass sich vor allem frisch Pensionierte für Verschwörungstheorien interessieren, hauptsächlich Männer. Sie hätten plötzlich viel Zeit, suchten nach Sinn und Beschäftigung und seien nicht mehr einsam, weil sie Gleichgesinnte gefunden hätten. Und die Identifikation mit solchen Weltbildern steigere das Selbstwertgefühl, weil man sich dann zu einer kleinen Elite zugehörig fühle, die meint, sie würde die «Wahrheit» kennen.

Wie kann die Gesellschaft der Radikalisierung im Alter entgegenwirken?

Bei älteren Menschen findet per se eine stärkere Filterblasenwirkung, auch im Analogen, statt. Man umgibt sich mit Menschen, die wir mögen, die ähnliche Meinungen vertreten. Ich glaube, es wäre wichtig, mehr Begegnungsräume zu schaffen. Orte, wo sich Menschen mit unterschiedlichen Haltungen und aus verschiedenen Milieus treffen können und begegnen können, um Vorurteile abzubauen.

Das Gespräch führte Raphael Zehnder. Es ist ein gekürzter Auszug aus dem «Kultur-Talk» zum Thema.

Buchhinweis

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Sarah Pohl und Mirijam Wiedemann: «Abgetaucht, radikalisiert, verloren? Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen». Vandenhoeck & Ruprecht, 2025.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 23.4.2025, 9:03 Uhr ; 

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