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Extremismus auf dem Vormarsch – Was tun gegen Radikalisierung?
Aus Sternstunde Philosophie vom 28.04.2024.
Bild: Getty Images / Westend61 abspielen. Laufzeit 59 Minuten 3 Sekunden.

Über Ängste und Extreme Welche Rezepte gibt es gegen Massenradikalisierung?

Extreme Meinungen sind in der Mitte unserer Gesellschaft angelangt: egal ob Rechtspopulismus, Verschwörungstheorien, Antisemitismus oder Fremdenhass. Was tun? Über mögliche Auswege aus der Extremismusfalle.

Das Misstrauen gegenüber Politik, Medien und Wissenschaft ist in den letzten Jahren gewachsen. Gleichzeitig werden extremistische Positionen immer salonfähiger, von rechts bis links, von Verschwörungstheorien bis hin zu Ernährungsgewohnheiten.

Extreme Meinungen sind in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Radikalisierung ist längst kein Randphänomen mehr, meint die 33-jährige österreichische Extremismusforscherin Julia Ebner. Sie lebt und forscht in London und berät zahlreiche Regierungen und Geheimdienste, ebenso wie die UNO und Google.

Menschenmenge mit Flaggen in einem historischen Gebäude, eine Person jubelt.
Legende: Der Wutbürger: Er steht exemplarisch für eine zunehmend lautstarke Protestkultur, wie sie etwa beim Sturm des Kapitols in Washington 2021 sichtbar wurde. KEYSTONE / EPA / JIM LO SCALZO

Für die Recherchen zu ihren Büchern «Wut», «Radikalisierungsmaschinen» und «Massenradikalisierung» hat sie sich monatelang inkognito unter Neonazis gemischt, unter Dschihadisten und Coronaleugner, im Netz ebenso wie im echten Leben.

Ebner war mitten unter Frauenhassern, besuchte ein Neonazi-Rockfestival ebenso wie Pro-Putin-Demos. Sie traf sich mit Klimaleugnern und mit rechtsextremen Vordenkern wie dem Österreicher Martin Sellner.

Porträt einer jungen Frau mit dunklem Haar vor schwarzem Hintergrund.
Legende: Julia Ebner ist Extremismusforscherin und Autorin. «Ich habe in den dunkelsten Ecken des Internets geforscht», sagt sie. IMAGO / Future Image

«Der Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 war ein Wendepunkt», meint Ebner. Dort versammelten sich nicht nur wilde Verschwörungstheoretiker, sondern auch Ärzte und Anwälte. Rund 40 Prozent der US-Amerikaner glauben, die Wahl Joe Bidens sei gefälscht worden.

Schuld ist auch die Pandemie

Auch in Deutschland glaubt ein Viertel der Menschen an eine Medienverschwörung und jede dritte Person findet, das Land sei gefährlich überfremdet. Schuld an dieser Massenradikalisierung sei auch die Pandemie gewesen, meint Ebner. Genauso wie der damit verbundene Vertrauensverlust in Politik, Medien und Wissenschaft.

Hinzu kamen Ängste, die Isolation und vor allem: die sozialen Medien, die extreme Meinungen verstärken. Ihre Wirkmacht zeigte sich bereits 2016, bei der Wahl Trumps ebenso wie beim Brexit.

Junge Männer sind anfälliger

Soziale Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Radikalisierung, besonders bei jungen Menschen, meint Julia Ebner. Das zeigte sich zuletzt bei der Verhaftung von minderjährigen Anhängern des «Islamischen Staates» aus der Ostschweiz, aber auch bei der Messerattacke auf einen orthodoxen Juden in Zürich am 2. März durch einen 15-Jährigen.

Extremisten verbreiten ihre Ideologien geschickt im Netz, manchmal getarnt in Form von Computerspielen, meint Ebner. In diesen Online-Foren folge auf einen Ausdruck wie «Heil Hitler» schnell mal «Ich muss jetzt ins Bett, habe morgen früh Schule».

Junge Männer sind, im Unterschied zu jungen Frauen, besonders anfällig für rechtes Denken, wie eine weltweit durchgeführte Studie aus den USA kürzlich zeigte.

Ebners Vermutung lautet: Junge Männer fühlten sich vermehrt in ihrer Identität angegriffen und hätten Angst vor Statusverlust.

Der Untergang des Abendlands: Nichts Neues

Neben der Dynamik des Digitalen treibt auch die Dynamik der Welt die Radikalisierung voran, meint der Philosoph und Schriftsteller Karl-Heinz Ott. Im Kern gehe es oft um Überfremdungsängste, um eine Überforderung angesichts des enormen Wandels.

Abstiegs- und Verlustängste seien weit verbreitet angesichts von Migration, Globalisierung, Wertewandel und dem Wegbrechen alter Gewissheiten – nicht zuletzt der Unterscheidung von Mann und Frau.

Porträt eines älteren kahlen Mannes mit Brille vor unscharfem Hintergrund mit Lichtern.
Legende: Jeder trage eine gewisse Unzufriedenheit mit sich herum, sagt Karl-Heinz Ott, Philosoph und Schriftsteller. Heute könne man – medial verstärkt – viel leichter in radikale Gedankenwelten abtauchen. SRF

Es drohe für viele, zumindest gefühlt, «der Untergang des Abendlandes». Ein geläufiger Ausdruck, der über 100 Jahre alt ist: 1918 erscheint ein Bestseller mit demselben Titel, geschrieben vom deutschen Philosophen Oswald Spengler, der viele Motive heutiger Rechtspopulisten vorweggenommen hat, lange bevor von «Remigration» und «Lügenpresse» die Rede war. Spengler kritisiert darin die städtischen Eliten, die Medien und die kulturelle Durchmischung.

Sehnsucht nach Ordnung

Karl-Heinz Ott kennt die konservativen und reaktionären Vordenker bestens, von Oswald Spengler über Martin Heidegger bis zu Carl Schmitt und Leo Strauss. In seinem Buch «Verfluchte Neuzeit» beschäftigt er sich mit der Geschichte des reaktionären Denkens und den prägenden Gestalten.

Sie alle verbindet laut Ott die Kritik an Liberalismus, Pluralismus, Multikulturalismus und Demokratie – und eine Sehnsucht nach Ordnung, Einheitlichkeit und Tradition. Und für sie alle gilt: «Vermischung ist der Untergang», wie Ott zusammenfasst.

Manche Denker wie der einflussreiche Staatsrechtler Carl Schmitt, Kronjurist der Nationalsozialisten, sehen den Sündenfall der Neuzeit bereits in der Reformation bei Martin Luther, der das individuelle Gewissen zum Massstab erhoben und über kirchliche Autoritäten gestellt hat. Oder beim Philosophen René Descartes, der mit seinem Satz «Cogito ergo sum» das Individuum aufs Podest gehoben hat.

Von der Nische in die Mitte

Rechte Ideologen der Gegenwart, wie Björn Höcke oder Martin Sellner, haben diese Vordenker gelesen und verkaufen die alten reaktionären Ideen in neuem Gewand, zeitgemäss, smart und digital.

Nahaufnahme eines wütenden Emoji auf einem Bildschirm
Legende: Hass und Hetze verbreiten sich auch über «Radikalisierungsmaschinen» wie Facebook, X oder Telegram. Immer mehr junge Menschen tappen so in die Extremismusfalle. IMAGO / photothek

Auch linksradikale Bewegungen, Verschwörungstheoretiker von QAnon, die «Junge Tat» oder der Islamische Staat: Sie alle verwenden die «Radikalisierungsmaschinen» des Internets, soziale Medien und Kanäle wie Telegram, 4chan, Discord, Parler, Gab, Truth Social, Gettr – Kanäle, die für viele unbekannt sind. Die Extremisten finden ihre Nische, werden grösser und dringen bis in die Mitte der Gesellschaft vor.

Umso wichtiger sei es, meint die Extremismusforscherin Julia Ebner, Begegnungsräume mit Andersdenkenden zu schaffen und die politische Mitte zu stärken. Gegen die lauten Extreme.

Politik der Emotionen ist gefragt

Vor allem aber sollten wir auf Prävention setzen, meint Ebner, denn jemanden von seinem radikalen Weg abzubringen, sei «extrem schwierig». Argumente und Fakten würden kaum helfen.

Es brauche einen psychologischen Zugang: «Wir müssen verstehen, was diese Menschen antreibt.» Die Inhalte, so scheint es, sind oft sekundär – es geht um die Angst dahinter, um die Wut, die Überforderung, die Einsamkeit, um all die Emotionen, die sich hinter der Radikalisierung verbergen.

Wir brauchen also, zusätzlich zur Regulierung der «Radikalisierungsmaschinen», eine bessere Politik der Emotionen.

Eine Politik der Anerkennung in einer Welt, die uns alle manchmal an den Rand des Wahnsinns treibt.

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Wie stark ist Extremismus in der Schweiz verbreitet?
Aus 10 vor 10 vom 23.06.2020.
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SRF 1, Sternstunde Philosophie, 28.4.2024, 11 Uhr.

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