Als am 18. August 1960 in den USA die erste Antibabypille namens «Enovid» in den Handel kam, brachte die New York Times nur eine kurze Meldung. Dabei war es der Beginn fundamentaler gesellschaftlicher Veränderungen.
Erstmals gab es ein zuverlässiges Verhütungsmittel. Und die Frau hatte es in der Hand: Sie konnte entscheiden, ob sie schwanger wurde oder nicht. Damals eine Errungenschaft.
Ohne Pille keine Gleichberechtigung
Der deutsch-amerikanische Arzt und Historiker Ronald Gerste bezeichnet die Pille als entscheidend für die Emanzipation: «Frauen konnten den Zeitpunkt einer Schwangerschaft aufschieben. So blieb mehr Zeit für Schule, Ausbildung und Beruf. In den USA hat sich der Frauenanteil an den Jus-Fakultäten innert zehn Jahren verdreifacht.»
Die Pille ermöglichte Frauen auch einen neuen Blick auf den eigenen Körper und seine Bedürfnisse: Sex hatte nicht mehr allein mit Kinderkriegen zu tun, sondern auch mit Liebe und Lust.
Let’s talk about sex
Der Durchbruch der hormonellen Verhütung fiel in eine Zeit gesellschaftlichen Aufbruchs. In den Bildungsschichten US-amerikanischer Metropolen sei in den 1950er-Jahren recht offen über Sexualität gesprochen worden, erzählt Historiker Gerste.
Die sogenannten «Kinsey-Reports» sorgten für Aufsehen: Befragungen tausender Männer und Frauen zu ihrer Sexualität. «Viele Leute hörten damals zum ersten Mal, dass auch Frauen Spass am Sex haben können – wenn sie nicht immer Angst haben müssten vor ungewollten Schwangerschaften.»
Mission einer Krankenschwester
Dass solche Diskussionen überhaupt möglich wurden, ist der Hartnäckigkeit einer New Yorker Krankenschwester zu verdanken. Margaret Sanger setzte sich seit den 1920er-Jahren für Verhütungsmethoden für Frauen ein. Dabei ging es allerdings nicht um sexuelle Befreiung, sondern meist ums nackte Überleben.
Sanger sah in den New Yorker Slums Armut und Elend kinderreicher Familien: «Die vielen Schwangerschaften laugten die Frauen aus. Viele starben bei stümperhaften Abtreibungen», sagt Historiker Gerste.
«Weil Sangers Aufklärungs-Aktivitäten als Förderung von Pornografie angesehen wurden, musste sie mehrmals vor Gericht. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie dadurch erhielt, half Sanger – auch wenn sie oft angefeindet wurde.»
Durchbruch in den 1950er-Jahren
Nach dem Zweiten Weltkrieg machte die Forschung über die hormonellen Zusammenhänge grosse Fortschritte. Entscheidend dabei: Es gelang, das Schwangerschaftshormon Progesteron künstlich herzustellen.
«Hier kam wieder Margaret Sanger ins Spiel», so Ronald Gerste. «Sanger brachte eine vermögende Philanthropin mit den Wissenschaftern zusammen. Das war entscheidend. Sanger war nicht nur hartnäckig, sondern auch eine gute Strategin: Ihr Networking verhalf der hormonellen Verhütung für Frauen zum Durchbruch.»
Freiheit mit Nebenwirkungen
Vor 60 Jahren wurde die Pille von Frauen als Befreiung erlebt – heute dagegen sind viele kritischer. Gemäss Medizinhistoriker Gerste ein Indiz für die Erfolgsgeschichte der hormonellen Verhütung.
Sie half bei der Familienplanung, ermöglichte Frauen Bildung und Karriere – und sie hat auch das Wissen über hormonelle Zusammenhänge vorangetrieben. «Wir wissen heute mehr über Risiken und Nebenwirkungen und haben andere Ansprüche.»
Zwar ist die Pille auch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Zulassung noch immer beliebt: In der Schweiz schluckte sie um die Jahrtausendwende fast ein Fünftel der Frauen im gebärfähigen Alter. Aber die Zahlen gehen zurück.
Dass die Pille in den letzten Jahren weniger beliebt geworden ist, bestätigt auch Sibil Tschudin, leitende Ärztin der Frauenklinik am Unispital Basel. Gerade junge Frauen seien heute zurückhaltender bei hormonellen Verhütungsmitteln.
Wohl wegen der Nebenwirkungen: Thrombose-Gefahr, Stimmungsschwankungen, weniger Lust auf Sex – das sei häufig Thema in den Medien.
Hormonelle Verhütung für den Mann
Es gäbe eine Alternative: die hormonelle Verhütung für den Mann. Wie bei der Frau ist es ein Mix künstlicher Hormone. Durch die Kombination von Testosteron und Gestagen wird die Spermienproduktion heruntergefahren.
Dies wirke ähnlich zuverlässig wie die Pille, sagt Michael Zitzmann, Hormon-Facharzt für Männer am Uniklinikum Münster. Allerdings muss der Cocktail gespritzt oder eingecremt werden, damit er sich nicht zu schnell abbaut.
Ausserdem haben auch Männer mit den Nebenwirkungen des Hormonpräparats zu kämpfen: Stimmungsschwankungen von depressiv bis aggressiv, wie eine Studie zeigte, an der Forscher Zitzmann beteiligt war.
Pille für den Mann, ein Zukunftsmodell?
Ist die hormonelle Verhütung für den Mann also gescheitert? Keineswegs, meint der Mediziner Michael Zitzmann. Nur ein kleiner Teil der Probanden habe so heftig reagiert: «90 Prozent hatten keine Probleme und waren zufrieden.»
Er forscht darum weiter an der hormonellen Verhütung für Männer. Und stellt fest: Sie wird gefragter. Vielleicht gerade, weil viele Frauen keine Lust mehr haben auf die Pille.