Marina Jung fiel aus allen Wolken, als sie erfuhr, dass ihr Sohn Kokain konsumiert. Ihr war zwar aufgefallen, dass er manchmal bedrückt wirkte und sich oft zurückzog. Doch als er sich seinen Eltern anvertraute, reagierte sie schockiert: «Es war für uns unvorstellbar, dass unser Sohn harte Drogen nimmt.» Rund vier Jahre dauerte die Abhängigkeits-Erkrankung von Benedict Jung, bevor er an den Folgen des Konsums starb.
Erstkonsum im Ausgang
Aus einer Laune heraus probierte Benedict Jung mit 22 Jahren erstmals Kokain, als er mit Freunden im Ausgang in Zürich war. Er war unbeschwert, hatte gerade erfolgreich die Offiziersschule abgeschlossen, war in einer glücklichen Beziehung und studierte an der Pädagogischen Hochschule, um Lehrer zu werden.
Er sei ein offener, vielseitig interessierter, kreativer Mensch gewesen, erzählt Marina Jung. Dass er spontan Kokain nahm, führt sie auf seine ausgeprägte Neugier und Abenteuerlust zurück.
Kokain kann sehr schnell abhängig machen.
Auf die erste Line folgte eine zweite. Bald stellte Benedict Jung fest, dass seine Gedanken nur noch um den nächsten Konsum kreisten. «Kokain ist eine Substanz, die sehr schnell abhängig machen kann», sagt der Suchtforscher Boris Quednow, Professor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
«Studien zeigen, dass etwa ein Fünftel aller Personen, die Kokain nehmen, irgendwann eine Abhängigkeit entwickeln.» Bei etwa vier bis sechs Prozent geschieht das bereits im ersten Jahr des Konsums.» Benedict Jung hatte das Pech, zu dieser Gruppe zu gehören.
Abstinenz ist keine Frage des Willens
Marina Jung bedauert im Rückblick, dass sie panisch reagierte, als sie davon erfuhr. Sie informierte sich umgehend über die Substanz und klärte ihren Sohn über die Gefahren auf. «Er verstand alle Argumente und sagte, er wolle aufhören. Doch er konsumierte weiter.»
Erst viel später sei ihr klar geworden, dass Abstinenz keine Frage des Willens ist. «Selbst Personen mit ursprünglich starkem Willen können den Konsum bei einer Abhängigkeit nicht mehr kontrollieren», sagt Boris Quednow.
Sucht ist eine Krankheit
«Aus medizinischer Sicht verstehen wir eine Abhängigkeit auch als eine Erkrankung des Gehirns», erklärt Quednow. Fachleute sprechen deshalb von einer Abhängigkeits-Erkrankung oder Substanz-Konsum-Störung. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Suchtgedächtnis, das die angenehme Erfahrung mit der Substanz abspeichert. Es kommt zu Fehlfunktionen im Belohnungszentrum und in der Impulskontrolle: «Die Kontrollmechanismen im Gehirn werden mit dem Konsum immer schwächer.»
Kokain ist in der breiten Gesellschaft angekommen.
Der Kokain-Konsum in der Schweiz steigt seit Jahren. Genaue Zahlen gibt es nicht, da es sich um eine illegale Substanz handelt. 6.2 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre gaben bei aktuellen Umfragen an, schon einmal Kokain konsumiert zu haben.
Bei Untersuchungen von Rückständen im Abwasser sind Schweizer Städte unter den Spitzenreitern in Europa. «Kokain ist in der breiten Gesellschaft angekommen», sagt Quednow: «Es wird in allen Schichten konsumiert. Die leichte Verfügbarkeit trägt zur steigenden Verbreitung bei.»
Es gibt keine exakten Zahlen dazu, wie viele Menschen derzeit unter einer Abhängigkeit leiden. Laut Franz Zobel, Vizedirektor von Sucht Schweiz, sind nach vorsichtigen Schätzungen rund 16’500 Personen wegen Kokainproblemen in Behandlung.
Kokain wirkt zwar kurzzeitig euphorisierend und leistungssteigernd. Langfristig schwächt es aber die kognitiven Fähigkeiten. Häufig kommt es zu psychischen Problemen, sagt Quednow: «Die Risiken werden unterschätzt.»
Kokain belastet das Herz-Kreislauf-System und erhöht das Risiko eines Infarkts oder einer Hirnblutung. Dazu kommt die Problematik der Streckmittel. Strassenkokain ist in der Regel nicht rein.
Betroffene handeln wie ferngesteuert.
Was die Überwindung einer Kokain-Abhängigkeit so schwierig macht: Der Konsum erzeugt kein Sättigungsgefühl. Es genügen geringe Reize, damit das Suchtgedächtnis für massiven Substanzhunger sorgt. «Dann handeln Betroffene wie ferngesteuert. Sie gehen an ihren Vorrat oder rufen den Dealer an – dieser Zustand hört erst auf, wenn konsumiert wird.» Auslöser können ein Ort oder eine soziale Situation sein, sagt Quednow: «Manchmal genügt auch ein simples Zuckertütchen mit weissem Pulver.»
Mehrere Anläufe, um abstinent zu werden
Im Fall von Benedict Jung lösten bereits glatte Oberflächen die unbändige Gier nach Kokain aus. Trotz grosser Anstrengung gelang es ihm nicht, die Abhängigkeit zu überwinden.
Es ist bewegend, in Marina Jungs Buch «Kokainjahre» zu lesen, wie ihr Sohn immer wieder neue Anläufe unternahm: Er war bei der Suchtberatung, in ambulanten Therapien, in Kliniken, begann ein Praktikum auf einem Bauernhof, begab sich für einen Therapieaufenthalt ins Ausland. Trotz alldem kam es immer wieder zu Rückfällen.
Rückfälle gehören zur Genesung
«Damals wusste ich nicht, dass Rückfälle normal sind und zum Genesungsprozess gehören», sagt Marina Jung.
Heute wünscht sie sich, dass sie mehr Wissen über den Umgang mit solchen Situationen gehabt hätte. Dann hätte sie ihrem Sohn mit einer anderen Haltung begegnen können.
Zum Beispiel sei es wichtig, nach einem Rückfall trotz aller Enttäuschung die abstinente Zeit zu würdigen: «Es macht einen Unterschied, ob ich meinem Sohn nach einem Rückfall vorwurfsvoll begegne, oder ob ich sage: Toll, dass du acht Wochen lang clean warst!»
Es braucht bessere Angehörigen-Aufklärung
Marina Jung plädiert dafür, in der Suchtberatung die Angehörigen stärker in den Fokus zu rücken: «Wenn man Angehörige befähigt, besser mit der Situation umzugehen, profitiert auch die suchtkranke Person davon.» Sie habe zwar auf Fachstellen viel Unterstützung erhalten, doch stand dabei meist ihr Sohn im Zentrum.
«Ich wäre froh gewesen um konkrete Verhaltenstipps für Angehörige und um den Hinweis, dass wir uns auf einen langen Weg einstellen müssen.»
Eltern im Ausnahmezustand
Aus heutiger Sicht würde sie vieles anders machen, sagt Marina Jung. Ihr Wissen will sie nun in ihrem Buch weitergeben, das eine gelungene Mischung aus fachlichen Informationen rund um Suchterkrankungen und persönlichem Erfahrungsbericht ist. Darin schildert sie mit grosser Ehrlichkeit, wie verzweifelt die Eltern ihrem Sohn zu helfen versuchten.
Einmal durchsuchten sie sein Zimmer nach Substanzen, fanden weisses Pulver und ersetzten es durch Backpulver. Eine Situation, die sie nachträglich als grotesk und grenzüberschreitend bezeichnet: «Wir wollten die Sucht unseres Sohnes kontrollieren, mit dem Resultat, dass die Sucht uns kontrollierte, weil wir permanent gestresst waren.»
Viele Angehörige fühlen sich einsam und wagen nicht, über dieses wichtige Thema zu sprechen.
Im Nachlass von Benedict Jung fanden sich Texte, in denen er sein Leiden beschreibt und seine Zerrissenheit in Worte fasst: «Nur ein Gedanke. Immer wieder. Doch eigentlich will ich dies nicht. Ich will nicht mehr konsumieren. Aber trotzdem sehne ich mich danach. Unbedingt.»
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Bild 1 von 3. Benedict Jung hat seit seiner Kindheit gerne gemalt. Bildquelle: Marina Jung.
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Bild 2 von 3. Diese Bilder stammen aus der Zeit seiner Abhängigkeits-Erkrankung ... Bildquelle: Marina Jung.
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Bild 3 von 3. ... aus seinem letzten Lebensjahr. Bildquelle: Marina Jung.
Nach einem schweren Rückfall brach der Kontakt ab. Vier Tage später erfuhren die Eltern von der Polizei vom Tod ihres Sohnes. Er wurde 26 Jahre alt.
Wie viele Menschen in der Schweiz infolge von Kokain-Konsum sterben, ist nicht bekannt. «Alle Personen, die eine Kokain-Konsumstörung entwickeln, haben eine deutlich verringerte Lebensdauer», sagt Boris Quednow. Oft kommen weitere Konsumstörungen dazu, weil Medikamente und Alkohol benutzt werden, um das psychische Tief nach Abklingen der Wirkung zu überstehen.
Besonders gefährlich ist Mischkonsum, wenn Kokain gleichzeitig mit Amphetaminen oder Medikamenten eingenommen wird. Dazu kommt die Streckmittel-Problematik. Man weiss nie genau, was dem weissen Pulver beigemischt ist. «Kokain kommt mit einem ganzen Paket von Nebenwirkungen daher, die den meisten Menschen wohl nicht bewusst sind», sagt Quednow.
Stigmatisierung und Scham überwinden
Es fällt Marina Jung nicht leicht, mit ihrer Erfahrung an die Öffentlichkeit zu gehen. Lange sei ihre Scham unendlich gross gewesen: «Angehörige sind geprägt von gesellschaftlichen Vorurteilen, von der Vorstellung, dass suchtkranke Personen eine Charakterschwäche haben.»
Das führe dazu, dass Angehörige sich selbst stigmatisieren, weil sie denken, in ihrer Familie stimme vermutlich etwas nicht. «Viele Angehörige fühlen sich einsam und wagen nicht, über dieses wichtige Thema zu sprechen.» Diesen Teufelskreis möchte Marina Jung mit ihrem Buch durchbrechen, auch aus der Erkenntnis: «Meine Scham ging weg, als ich es wagte, über sie zu sprechen.»