Hinter der Theke in einem Club, zu Hause auf dem Sofa oder heimlich auf dem WC im Fussballstadion – immer mehr Menschen schnupfen den aus Blättern des Kokastrauchs hergestellten, weissen «Schnee». Mithilfe eines Röhrchens ziehen sie sich eine dünne Linie in die Nase. Besonders am Wochenende steigt der Konsum der illegalen Droge stark an. Abwasserdaten zufolge gehören Zürich, Genf, Bern oder auch Basel längst mit zu den Koks-Hochburgen in Europa.
«Früher mussten die Leute zu zwielichtigen Dealern gehen, heute lässt es sich kontaktfrei über Social Media oder Messenger-Dienste bestellen und man bekommt es in kürzester Zeit geliefert», sagt der Pharmakopsychologe Boris Quednow von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Zudem sei der Preis von 70 bis 120 Franken pro Gramm Kokain insbesondere für junge Menschen erschreckend niedrig. Es koste quasi nur noch so viel wie drei bis vier Cocktails in einer Zürcher Bar.
Erschreckende Studienresultate
Quednow ist Mitautor einer jetzt veröffentlichten Studie, die den Kokainkonsum bei 24-Jährigen aus Zürich anhand von Haaranalysen im Detail untersucht hat. Die dabei nachgewiesene Häufigkeit sei schockierend gewesen, sagt er.
Von den 760 Teilnehmenden hatte mehr als jede fünfte Person (22.8 Prozent) in den letzten drei Monaten mindestens einmal Kokain konsumiert. Vier Jahre zuvor war es bei derselben und sogar noch etwas grösseren Gruppe mit 1001 Teilnehmenden im Alter von 20 Jahren weniger als halb so viel (9.4 Prozent) gewesen.
Haaranalyse deckt Kokainkonsum auf
Besonders brisant ist, dass zwischen dem Nachweis in den Haaren und der Befragung über den eigenen Drogenkonsum eine frappante Lücke klafft. Von den 173 durch Haaranalysen bestätigten Kokainkonsumierenden gaben mehr als 100 Personen (also rund 60 Prozent) an, die Substanz im untersuchten Zeitraum der Studie nicht konsumiert zu haben.
Die Gründe für diese Diskrepanz sind vielfältig. «Viele der Betroffenen konsumieren offenbar nur sporadisch und haben den letzten Konsum schon wieder vergessen oder wähnen ihn länger als drei Monate zurück», sagt Quednow. Andererseits sei Kokainkonsum stigmatisiert und nicht legal, sodass bei der Nichtangabe des Konsums im Selbstbericht sicher unter anderem auch Scham eine Rolle spielen würde.
Kokain ist eine extrem stimulierende Substanz für unser Belohnungssystem, die ein hohes Suchtpotential hat. Wird das kristalline Pulver zum Beispiel geschnupft, werden die neuronalen Botenstoffe Dopamin, Serotonin und Noradrenalin im Gehirn extrem erhöht. «Es führt zu einem starken Kick, der schnell zur Gewohnheit werden kann, um etwa negative Emotionen zu überdecken», erklärt Quednow.
Doch nach intensiven Episoden des Kokainkonsums, dem sogenannten Binge-Konsum, stürze man danach oft in einen emotionalen «Crash», geprägt von enormen Selbstzweifeln im schlimmsten Fall bis zu Suizidgedanken.
Hohes Suchtpotential
Es sei ein Mythos, dass Kokain nicht abhängig mache, so Quednow. Obwohl es tatsächlich keine körperlichen Entzugssymptome gäbe, sei das psychologische Verlangen nach der Substanz sehr ausgeprägt. Jede fünfte bis achte Person entwickle eine Kokainabhängigkeit. Zum Vergleich: Bei Alkohol und Cannabis ist es etwa jede achte bis zehnte Person und bei Heroin etwa jede vierte.
Aufgrund der aktuellen, hohen Verfügbarkeit von Kokain rolle derzeit eine grosse Kokain-Welle auf uns zu, fügt der Zürcher Sucht-Experte hinzu. Dies könne massive Probleme für das Gesundheitssystem verursachen.
Kokain wird unter anderem zum Feiern, als sozialer Booster im Ausgang, zur Leistungssteigerung oder auch als Selbstmedikation bei psychischen Problemen genommen. Doch die Stimulanz löst im Körper auch enormen physiologischen Stress aus: Wer beispielsweise unter dem Einfluss der Droge in einer aggressiven Umgebung ist, reagiert impulsiver und extremer als ohne die Substanz. Hinzu käme, so der Zürcher Experte, dass man Verletzungen deutlich weniger spüre und etwa in einer Prügelei nicht so schnell aufhöre, wenn einem etwas weh tue.
Mehr Infarkte und Hirnblutungen
Neben der erhöhten Impulsivität treten bei regelmässigem Konsum mit der Zeit oft psychische Effekte wie etwa Depressionen sowie Konzentrationsschwierigkeiten und Merkfähigkeitsprobleme auf. Riskant ist auch, dass es häufiger etwa zu Herzinfarkten, Schlaganfällen oder Hirnblutungen kommen kann.
«Man sollte daher mehr in die Prävention investieren, damit Kokain nicht zur Alltagsdroge wird», warnt Quednow. Denn bei den Konsumierenden werde die Substanz häufig verharmlost.