In der Schweiz – reich, sicher und idyllisch – müssten die Menschen besonders glücklich sein. Tatsächlich sind auch knapp zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer zufrieden mit ihrem Leben. Dies hat eine von der SRG in Auftrag gegebene Umfrage unter knapp 60'000 Personen ergeben. Die meisten Befragten fühlen sich sehr häufig glücklich, ruhig, erfüllt und geliebt.
Verzerrte Selbstwahrnehmung
Auch weltweit steht die Schweiz gut da: Sie landet beim diesjährigen «World Happiness Report», herausgegeben von der UNO, auf Platz acht. Damit verliert sie im Vergleich zum Vorjahr zwar vier Ränge, führt aber mit anderen nordischen Ländern weiterhin den Weltzufriedenheitsindex an. Der Ländervergleich, aber auch andere Umfragen, welche die Zufriedenheit von Menschen abfragen, sind ein probates Mittel, womit Forschende das abstrakte Gefühl Glück messen.
Doch dieses Vorgehen gestaltet sich schwierig: Die Selbstwahrnehmung kann ganz anders sein. «In der Schweiz hat man das Gefühl, glücklich sein zu müssen», sagt der Ökonom und Glücksforscher Mathias Binswanger. «Die Menschen geben positive Antworten, wenn man sie nach ihrem Glück befragt.» In Frankreich oder Italien zum Beispiel gebe es hingegen eine andere Kultur, dort beklage man sich gerne. Diese Länder würden deshalb auch häufig schlechter bei Vergleichen des durchschnittlichen Glücksempfindens abschneiden.
Der sogenannte «Social-Desirability Bias» scheint in der Schweiz also besonders ausgeprägt zu sein, ganz nach der Devise: «Wir haben doch alles, da müssen wir doch glücklich sein».
Wir lernen, wie man in der Wirtschaft gut funktioniert, aber wir lernen nur wenig darüber, wie man ein gutes Leben führt.
Unter dieser allgemeinen Annahme würden wir aber ständig darauf schauen, was nicht perfekt sei und uns fragen – durch den Vergleich mit anderen – wie wir noch besser werden können. Die Folge: Wir sehen zu wenig, wo wichtige Glücksfaktoren verloren gehen, zum Beispiel beim Sozialleben, so Binswanger.
Verbundenheit ist essenziell
Dabei ist gerade das Moment der Verbundenheit ein zentraler Baustein für ein erfülltes Leben, sagt auch der Berner Psychologe und Glücksforscher Bernhard Sollberger. «Das Paradebeispiel sind die sozialen Beziehungen. Gute, vertrauensvolle, ausgewogene, auch intime soziale Beziehungen sind besonders wichtig.»
Gleichzeitig liesse sich Verbundenheit auch auf den Beruf ausweiten. «Jemand, der seiner Berufung nachgeht, wird mehr Verbundenheit mit seinem Tun empfinden als jemand, der einfach seinen Job wegen der guten Bezahlung macht.»
Rund die Hälfte der Glücksunterschiede zwischen Menschen gehen auf die Gene zurück.
Die SRG-Studie hingegen zeigt, dass das allgemeine Glücksniveau in der Schweiz stärker vom Privaten abhängt: Während 66 Prozent der Befragten mit ihrem Privatleben zufrieden sind, sind es beim Berufsleben nur 37 Prozent. «Viele Schweizer und Schweizerinnen wie auch die Menschen in anderen Ländern verbringen einen Grosssteil ihres Lebens mit einem Beruf, der Geld bringt, aber nur wenig Freude bereitet», sagt Binswanger.
Einsame Schweiz
Einige Schweizerinnen und Schweizer haben im Privatleben aber auch mit Einsamkeit zu kämpfen. Gemäss der Studie sprechen wir im Durchschnitt fünf Stunden am Tag mit niemandem. Knapp ein Fünftel der Befragten fühlt sich im Alltag einsam. Insbesondere das Gefühl der Einsamkeit, mache Menschen unglücklich, meinen die Glücksforscher.
«In Ländern wie der Schweiz vereinsamen vor allem ältere Menschen. Es gibt keine entwickelte Kultur des Zusammenlebens», sagt Binswanger. «Wir lernen hier, wie man in der Wirtschaft gut funktioniert, aber wir lernen nur wenig darüber, wie man ein gutes Leben führt.»
Auch junge Menschen leiden unter Einsamkeit. Eine kürzlich erschienene Studie des Gottlieb Duttweiler Instituts hat gezeigt, dass junge Menschen in der Schweiz zwar oft mehr Freundschaften haben als ältere Menschen, sich aber trotzdem einsam fühlen. Ein Grund sei sicherlich Social Media, meint Psychologe Sollberger. «Ich habe 5'000 Freunde auf Facebook, aber nahe stehen tun mir vielleicht nur zwei.»
Genetisch glücklich?
Ein Fakt zum glücklichen Leben ist dagegen unumstritten: «Rund die Hälfte der Glücksunterschiede zwischen Menschen gehen auf die Gene zurück», sagt Sollberger. Krankheiten und psychische Störungen hätten oft eine vererbte Komponente und beeinflussen ein glückliches Leben enorm.
Wie sehr hat man also das eigene Glück in der Hand? Sollberger erwähnt den Bereich der Epigenetik, das heisst, Gene können in Abhängigkeit unseres Verhaltens ausgedrückt werden oder nicht. «Dies ist zum Beispiel mittels Essgewohnheiten, Sport oder Meditation möglich – das ist doch mal eine gute Nachricht.»
Die Frage sei aber auch, ob wir in der Lage sind, Änderungspotenzial wahrzunehmen, meint Glücksforscher Binswanger: «Es ist immer bequemer, das eigene Unglück auf die Umstände oder auf andere abzuwälzen, als zu sagen, ich muss jetzt selbst mal was tun.»
Glücklichsein in Krisenzeiten
Vor allem in Krisenzeiten muss die eigene Komfortzone durchbrochen werden. Sollberger hat das Verhalten der Schweizerinnen und Schweizer während der Corona-Pandemie analysiert. Er hat beobachtet, dass Menschen zufriedener waren, wenn sie weniger mit negativen Emotionen beschäftigt waren und eher pragmatisch vorgegangen sind.
Es gibt wahrscheinlich kaum ein Land, wo man über so lange Zeit in Stabilität und Wohlstand gelebt hat.
Posttraumatisches Wachstum bezeichnet das Phänomen, dass nach einem einschneidenden negativen Erlebnis wie der Pandemie nicht nur psychische und soziale Beeinträchtigungen, sondern auch persönliche Entwicklungen folgen können. Die Pandemie hätte sicherlich einigen die Augen geöffnet, was ein attraktives Leben ausmacht und was nicht, meint auch Binswanger.
Globale Krisen sind in der Schweiz jedoch eher die Ausnahme. «Die Stabilität ist natürlich ein wichtiger Beitrag zum Glück», sagt Binswanger. Viele Schweizer und Schweizerinnen haben genug Geld zum Leben, müssen sich um keinen Kriegseintritt sorgen und können sich zum Ausgleich in eine intakte Natur verdrücken. «Es gibt wahrscheinlich kaum ein Land, wo man über so lange Zeit in Stabilität und Wohlstand gelebt hat», sagt Binswanger. «Das machen wir uns selten bewusst.»
Macht Geld glücklich?
Bleibt noch die Frage, ob Geld wirklich glücklicher? Geld sichert das tägliche Überleben, meint Binswanger. «Mit wenig Wohlstand muss ich mir mehr Sorgen machen.» Aber eine interessante Beobachtung in hoch entwickelten Ländern wie der Schweiz, Westeuropa, USA, Japan und Australien sei, dass dort das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen mit einem noch höheren Bruttoinlandprodukt pro Kopf nicht weiter ansteige.
«Ein materialistisches Denken ist zum Glücklichsein nicht förderlich», bestätigt auch Sollberger. In Erich Fromms bekannten Werk «Haben oder Sein» zeigte der Sozialpsychologe bereits 1976 auf, wie der Mensch «als Diener des Wirtschaftssystems» immer mehr haben will, sich dabei von sich selbst entfremdet und darüber krank und unglücklich wird. Dem gegenüber stellt Fromm die Existenz des Menschen. Menschen, die sich über ihr Wesen anstatt über Besitz definieren, seien friedlicher und glücklicher.
Bei der Frage nach dem Glück kommt man wohl kaum an grossen Menschheitsfragen vorbei. Und auch nicht an einem gewissen schizophrenen Denken, das Binswanger der Schweizer Bevölkerung unterstellt: «Einerseits denken die Schweizer, sie haben es besser gemacht als andere. Andererseits gibt es eine panische Angst, den Anschluss an die Welt zu verpassen.»
Vielleicht ist ja genau diese Ambivalenz ein Antriebsmotor zum Glücklichsein in der Schweiz.