Man mag Harry als unreifen Jungen in Gold-Pampers karikieren und einen undankbaren Bengel schimpfen – sein Verhalten ist in Vielem stinknormal. Da leidet ein Spätpubertärer unter den Fesseln seiner Herkunft und meint sie zu sprengen, indem er zum Rundumschlag ausholt.
Am Dienstag sind Prinz Harrys Memoiren «Spare» («Reserve») erschienen, in denen er mit seiner Familie und dem Königshaus abrechnet.
Die Weltliteratur wäre deutlich schmaler, würde sie nicht just diese Geschichte wieder und wieder erzählen: Ein Kind, das sich nicht verstanden fühlt. Ein Bruder, der aus Eifersucht sein Geschwister erschlägt. Eine Tochter, die die Pläne ihrer Eltern aufs Übelste durchkreuzt.
Vom alten Testament über Sophokles und Shakespeare bis zu den modernen Serien: Das Drama namens Familienzwist wiederholt sich.
Gier nach royalem Schmutz
Aussergewöhnlich an der Geschichte ist einzig, dass bei der Demontage des heilen Familienglücks alle Welt zuschauen darf. Prinz Harry nutzt die Medien geschickter als Adlige zuvor und schlägt schamlos Profit aus der Gier nach schmutziger royaler Wäsche.
Familienbande geraten zur Hölle, wenn erst einmal das Feuer des Verrats sie ergreift.
Pikant daran: Er bereichert sich ausgerechnet an jenem Voyeurismus, den er in seinen larmoyanten Ergüssen für sein und Gattin Meghans schlimmes Schicksal verantwortlich macht. Doch wie sehr sich der Abtrünnige auch in Rage redet, seine Herkunftshaut wird er damit nicht sprengen. Es ist eine alte Wahrheit, dass keine Beziehung so unfrei ist wie jene der Familie, in die wir hineingeboren und -erzogen werden.
Paul Watzlawicks Bemerkung «In der Wahl seiner Eltern kann man nicht vorsichtig genug sein» ist deswegen ulkig, weil es rein gar nichts zu wählen gibt, wenn es um Mutter und Vater geht. Ebenso wenig können wir unseren Status als Kind bestimmter Eltern je wieder abtreten.
Das Feuer des Verrats
Es eint uns, wie Hannah Arendt es nannte, unsere «Natalität»: Wir alle starten als von jemandem Geborene in unser Leben. Eltern sind, wie der Schriftsteller Peter Weiss einst schrieb, die «Portalfiguren» unseres Lebens: Wir können noch so sehr auf Distanz gehen zu ihnen und sie gewaltsam vom Sockel stossen: Familie ist uns, wenn nicht in Fleisch und Blut, dann sicher in unsere Identität übergegangen.
Das Drama um die Windsors illustriert ein Zweites: Familienbande geraten zur Hölle, wenn erst einmal das Feuer des Verrats sie ergreift. Einander piesacken und quälen kann man in Familien umso besser, als sich Eltern, Kinder und Geschwister gut kennen und mit deren wunden Punkten und gut gehüteten Geheimnissen bestens vertraut sind.
Es bleibt die naive Hoffnung
Es kommt nicht von ungefähr, dass der Verrat in der Weltliteratur stets von Nahestehenden begangen wird. In der vielleicht berühmtesten Erzählung eines Verrats in der abendländischen Geschichte ist es ein Freund, der den entscheidenden Hinweis gibt: nämlich Judas, als er Jesus an die Römer verrät.
Liebe, Intimität, Vertrauen führen als Kehrseite stets die Verletzlichkeit mit sich. Und jene, die um diese Verletzlichkeit wissen, können uns das Leben tragischerweise sehr einfach zur Hölle machen.
Dass sich die beiden Brüder je wieder vertragen werden, wie sich dies Harry offenbar wünscht, scheint nur noch eine naive Hoffnung. Möglicherweise werden sie einander irgendwann wieder in die Arme schliessen – vor laufenden Kameras, inszeniert von PR-Beauftragten.
Aus dem blauen Blut dürfte bei Familie Windsor jedoch zeitlebens böses Blut geworden sein.