Es gibt Krebsfamilien, Herzinfarktfamilien – und es gibt Demenzfamilien. Die Familie meiner Mutter ist eine Demenzfamilie. Schon meine Urgrossmutter war betroffen. Die Erkrankung meines Grossvaters habe ich aus nächster Nähe mitbekommen. Allerdings ist er erst Mitte 70 erkrankt und wurde 94 Jahre alt. Meine beiden Onkel hingegen waren beide Mitte 60, als die Alzheimer-Krankheit ausbrach, und sie starben Mitte 70 mit schwerer Demenz.
Ich bin familiär also vorbelastet. Wie das klingt – als trüge man eine Last an seinen Genen. Dabei habe ich von meinen Eltern ja auch viel Gutes geerbt.
Mein Cousin sagte einmal, er habe seinen Vater nicht an den Tod, sondern an die Krankheit verloren. Sie schritt brutal schnell voran. Mein Onkel war Anästhesist in einem grossen Krankenhaus. Er legte schon vor seiner Pensionierung aus eigenem Antrieb seinen Beruf nieder, nachdem er bemerkt hatte, dass er nicht mehr sicher war, welche Medikamente er dem Patienten gespritzt hatte. Seine Kinder erkannte er schon Jahre vor dem Tod nicht mehr.
Manchmal vergesse ich Dinge, und ich zeichne heimlich eine Uhr. Demenzbetroffene können ab einem bestimmten Stadium keine Uhr mehr zeichnen. Ich kann es noch. Alles im grünen Bereich also?
Anruf bei der Geriaterin und Demenzspezialistin Irene Bopp-Kistler: Das Namensgedächtnis werde bei vielen schon ab 40 schlechter, das sei völlig normal. Sorgen machen müsse man sich erst, wenn man bei Alltagsroutinen versage, Fehler im Beruf passierten. Dennoch will ich wissen, wie hoch mein Risiko ist, selbst dement zu werden.
Erhöhte Wahrscheinlichkeit
Wer mit einem Erkrankten im ersten Grad verwandt ist (Eltern, Geschwister, Kinder), hat im Durchschnitt ein vierfach höheres Risiko als der Bevölkerungsdurchschnitt, ist einem Merkblatt der deutschen Alzheimer Gesellschaft zu entnehmen. Das entspricht einer Wahrscheinlichkeit von fast 20 Prozent, irgendwann im Leben zu erkranken. Für Verwandte zweiten Grades (Grosseltern, Onkel etc.) beträgt die Wahrscheinlichkeit zehn Prozent.
Allerdings tritt die Krankheit bei vielen erst im höheren Alter auf. Die besonders aggressive Form von Alzheimer, die sich früher bemerkbar macht, ist manchmal verursacht durch ein Gen, das «autosomal dominant» vererbt wird und zu einem 50-Prozent-Risiko führt. Um zu wissen, ob dieses Gen in unserer Familie vorhanden ist, hätte man meine Onkel testen müssen.
Das «Bündel Papier»
Weil meine Mutter und meine Tante nicht betroffen sind, finde sich ein solches Gen sicher nicht in unserer Familie, sagt Demenzspezialistin Bopp. Was mein Risiko anbelangt, komme entschärfend hinzu, dass in der Familie meines Vaters keine Demenzerkrankungen bekannt sind. Dennoch habe ich Angst. Doch Angst wovor?
Wer bin ich noch, wenn ich alles vergesse?
Meinem Grossvater war bewusst, dass ihm sein Denken abhandenkommt. Einmal zeigte er auf ein Buch und sagte, er wisse gerade nicht, wie man solch ein Bündel Papier nenne. «Buch», warf ich ein. Er winkte traurig ab. Wenn er im Gespräch mit anderen vom «Bündel Papier» spreche, würden sie denken, er mache einen Witz oder drücke sich besonders gewählt aus. Die Wahrheit sei, dass ihn die Worte verlassen.
Wann brach das Denken ab?
Mein Grossvater studierte in seinen Fünfzigern noch Philosophie und schrieb, solange er konnte, an philosophischen Essays. Die Frage nach dem Bewusstsein, dem Ich, beschäftigte ihn zuletzt am meisten. Er suchte mit existentiellem Eifer, was ihm selbst abhandenkam.
Meine Grossmutter bat mich immer wieder, mit ihm über Philosophie zu sprechen, das beruhige ihn. Aber eigentlich sprachen wir über seine Krankheit, und ich litt mit ihm. Manchmal stosse ich in den Büchern, die ich von ihm geerbt habe, auf Notizen. Ich versuche, seine Denkwege zu ergründen und frage mich, wann sein Denken ganz abbrach.
Das Körpergedächtnis bleibt erhalten
Die Vorstellung, mein Denkvermögen, meine Sprache, meine ganze Persönlichkeit zu verlieren, finde ich grausam. Wer bin ich noch, wenn ich alles vergesse? In der Philosophie ist der Personenbegriff eng gekoppelt an unser Erinnerungsvermögen.
Vielleicht lebte ich mit einer schweren Demenz jeden Tag mühelos im Moment?
Doch auch wenn das biografische Gedächtnis schwindet und wir nicht mehr wissen, wie wir heissen und wie alt wir sind, bleibt das Körpergedächtnis oft lange erhalten. Mein Grossvater liebte es bis zuletzt, wenn ich seine stets eiskalten Hände streichelte. Irgendwie schien ich ihn dann noch zu erreichen.
Zwischen Glück und Verzweiflung
Aber werde ich in einem solchen Zustand glücklich sein? Sicher schliesse ich zu Unrecht von meinem jetzigen Empfinden auf eine Seinsweise, von der ich nicht weiss, wie sie sich anfühlen wird. Vielleicht würde ich dann nichts vermissen?
Heute gehe ich zum Meditieren ins Zen-Retreat. Vielleicht lebte ich mit einer schweren Demenz jeden Tag mühelos im Moment? Aber im Übergangsstadium wären da sicher auch Abgründe und tiefe Verzweiflung.
Der grosse Durchbruch in den Therapien steht zwar noch aus. Vermutlich schlagen sie aber umso besser an, je früher man sie ansetzt, sagt Irene Bopp-Kistler. Wenn ein begründeter Verdacht bestehe, sollte man deshalb zur Abklärung gehen.
Ich zeichne also weiter meine Uhren und bin froh, noch zu wissen, dass ein Buch ein Buch ist.