Nach sechs Wochen oder Monaten ist Liefertermin. Dann folgt ein neuer Auftrag, eine neue Teamzusammensetzung, ein neues Themenfeld. Wer soll sich da noch identifizieren? Womit? Und vor allem: wozu auch?
Hennric Jokeit, Professor für Neuropsychologe, diagnostiziert der modernen Arbeitswelt: «Wir sind dabei, den Beruf als langfristige, identitätsstiftende Domäne mit einem lebenslangen Arbeitgeber abzulösen durch einen Job, der zunehmend in kurzfristige Projekte unterteilt ist.»
Für die einen stecke das voller Möglichkeiten, «für andere ist das ein Verlust von Stabilität und fördert Stress und Angst», sagt Jokeit.
Dabei sollten wir doch durch den Fortschritt entlastet werden. Mit der Automatisierung in den 1970er- und 1980er-Jahren kamen Roboter zum Einsatz. Das verheissungsvolle Narrativ damals lautete: «Die Drecksarbeit machen jetzt Maschinen.»
Der unaufhaltsame Fortschritt verhiess die Gewissheit, dass die höher qualifizierte Arbeit für den Menschen bleibt, denn dieser sei durch nichts zu ersetzen.
PCs als Zeitsparer und Sinnräuber
Mit dem Einzug der Computer in alle Lebensbereiche hiess es, man spare Zeit. Dass diese nie zurückkam, merkten viele spät bis nie. Stattdessen dreht sich das Hamsterrad schlicht schneller. Dabei sind Computer, laut Jokeit, «digitale Prothesen», um im Hamsterrad überhaupt noch Schritt halten zu können.
Die Folge des digital angetriebenen Hamsterrads: Antipsychotika und Antidepressiva würden eingenommen, «um diesen Ängsten, Depressionen und Zwängen zu entgehen. Dann noch das Ritalin obendrauf, um Leistungen zu erbringen».
Dass psychische Erkrankungen trotz oder wegen des Fortschritts zunehmen, ist bekannt. Dass Jokeit aber verstärkt eine Zuweisung von Patientinnen und Patienten «um die 20 Jahre mit dem ersten Burnout» verzeichnet, ist neu. Und das reisse nicht ab.
Gen Z vs. Babyboomer: Was zählt wirklich?
Natürlich reagiert nicht jeder Mensch gleich. Individuelle Unterschiede seien auszumachen, aber auch Unterschiede zwischen den Generationen: Während für Babyboomer etwa die kurze Lebensdauer von Projekten ein radikaler Bruch des Gewohnten ist, sei die Generation Z da hineingeboren.
«Die gehen gar nicht mehr von Langfristigkeit aus», richteten nicht das Leben nach der Arbeit aus, sondern umgekehrt, so der Neuropsychologe Jokeit über die Generation der zwischen 1997 und 2010 Geborenen. «Wir haben an unserer Klinik erstmals keine Assistenzärzte mehr, die 100-Prozent-Pensen arbeiten wollen.» Das sage zwar nichts über die Motivation, wohl aber über Prioritäten.
Corona war der Brandbeschleuniger.
Arbeit war vor Corona «raum-zeitlich und auch sozial definiert», sagt Jokeit. «Zum Arbeiten bin ich mehrheitlich in die Firma gefahren, habe auf dem Gang Kollegen getroffen. Diese Verortung führte auch zu sozialen Bindungen.» Das hat sich durch die Pandemie geändert: «Corona war der Brandbeschleuniger: Wir arbeiten von zu Hause aus, im Büro und unterwegs.»
Zeitlich ist diese Flexibilität gleichermassen gegeben. «Wir kümmern uns am Nachmittag um die Kinder, abends sind wir wieder am Schreibtisch.» Alles ist flexibel oder wird flexibel gemacht. Dieser Verzicht auf und Verlust von Struktur bedeute für viele Instabilität und erzeuge eher Angst, als dass er die Menschen zufrieden stimme.
Liebe fürs Leben? Projektgefährte!
Dass langlebige Strukturen im Auflösen begriffen sind, offenbarten auch immer mehr unsere partnerschaftlichen Beziehungen. Der «Lebensabschnittsgefährte wird der Projektgefährte»: Statt Ehe tue man sich in Mikroprojekten in wechselnden Besetzungen zusammen.
In Städten seien die Geschiedenen oder Getrennten in der Mehrheit. Verwurzelung an einem Ort mit einem (Schul-)Freundeskreis verschwinde zunehmend, soziale Stabilisatoren wie Vereinsleben nähmen sukzessive ab, so Jokeit.
Längerfristige Stabilität wird abgelöst vom Primat der Mobilität, geografisch wie menschlich: «Du musst dich verändern, sonst hältst du nicht Schritt», lautet das Gebot seit vielen Jahren. Das war früher nicht anders, aber es schien weniger laut zu dröhnen.
Das (selbst?)auferlegte Optimierungsmotto «lifelong learning» ist eine freundliche Einladung, neugierig und wissbegierig zu bleiben. Doch was, wenn man den eigenen, beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen auf Dauer nicht genügt? Wem nützt sein Wissen, wenn es beim Erwerb schon sein Ablaufdatum erkennen lässt?
Wer die resiliente Fähigkeit besitzt, mit Stress umzugehen, kommt damit gut zurecht. Wer Wurzeln oder Verbindlichkeit braucht, hat es schwerer. Was folge, seien Unsicherheit, Verlustangst, Schlafstörungen und im schlimmsten Fall der Einsatz von Medikamenten. Das gute Lebensgefühl schwinde, kurzum: «Wir sind erschöpfte Wesen», so Jokeit.
KI als nächster grosser Stressfaktor?
Der Urknall dieser neuen Unsicherheit sei die künstliche Intelligenz. Sie werde auf Dauer die Konkurrenz von Mensch und Maschine befördern, wodurch «der Verlust identitätsstiftender Arbeit als Tragödie begriffen werden wird», sagt Jokeit.
Zudem habe der grosse Hype um die Neurowissenschaften dafür gesorgt, dass das Streben nach Selbstoptimierung weit verbreitet sei. Da habe man sich als Mensch jahrelang angestrengt, um optimiert zu sein, und nun passiere, womit niemand gerechnet hat: «Die künstliche Intelligenz ist erwacht. Das ist eine Verunsicherung aus allen Richtungen.»
Rein in die Stresszone
In «Der flexible Mensch» beschreibt der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett die Absenz des langfristigen Denkens und den damit verbundenen Verlust von Vertrauen und Loyalität. Beides sei uns wichtig, weil es uns privat wie beruflich Sicherheit durch Vorausschaubarkeit gebe.
«Der Verlust dessen ist ein immenser Stressor und beraubt uns wichtiger Resilienzfaktoren. Das nagt an uns und führt dazu, dass wir uns eben nicht behütet fühlen, nicht aufgefangen, nicht geborgen», sagt Hennric Jokeit.
Diesen Stress wird man auch in der Vier-Tage-Woche haben. Der springende Punkt ist laut Sennett vielmehr, ob wir umdenken und uns die Frage stellen: «Was ergibt eigentlich Sinn?»
Vieles in unserer schnelllebigen Zeit muss heute vom Menschen selbst definiert werden. Das gilt gleichermassen für Privates wie Berufliches. Man kann das Freiheit nennen, Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Oder Verlust von Halt, Verlässlichkeit und Sicherheit.