Aufstehen, anziehen, frühstücken, Zähne putzen, das Haus verlassen: Was für Menschen ohne Kinder selbstverständlich und einfach ist, kann mit Kindern ein täglicher Kampf sein.
Das weiss auch Stephan und erinnert sich an das letzte Mal, als sein siebenjähriger Sohn partout nicht mitkommen wollte: «Zuerst habe ich ihn freundlich aufgefordert.» Dann begann er zu drohen: «Wenn du jetzt nicht mitkommst, gibt es später keinen Dessert.» Und weil das auch nicht nützte, wurde er laut: «Dann gehe ich halt ohne dich.»
Auch ich kenne solche Situationen, die mich wütend machen. Es nervt mich manchmal ungemein, wenn mein zweijähriger Sohn seinen vollen Teller in die Hand nimmt, mich mit einem schelmischen Lächeln anschaut und den Teller dann mit voller Absicht und Wucht auf den Boden schmeisst. Ich schreie ihn an.
Viele Eltern kennen diese oder ähnliche Situationen – irgendwann flippt man aus. Doch wann ist die rote Linie überschritten?
Schreien ist nicht per se verboten
«Wenn Wut, Verzweiflung oder Enttäuschung sehr stark sind, dürfen Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder auch mal schreien.» Dieser Satz von Daniela Holenstein beruhigt, denn sie muss es ja wissen: Seit 25 Jahren ist sie Elternbildnerin und gibt Erziehungskurse.
Es ist in Ordnung, wenn Eltern ihre eigenen Gefühle ausdrücken und sagen: «Oh Mann, jetzt habe ich doch gerade den Boden geputzt. Jetzt muss ich nochmal putzten. Das macht mich wütend.»
Die Grenze sei jedoch dann erreicht, sagt Holenstein, wenn nicht die eigenen Gefühle oder die Handlung des Kindes im Fokus stünden, sondern die Person: «Immer du bist es, der Probleme macht», oder «Wenn du diesen Teller nochmal auf den Boden wirfst, habe ich dich nicht mehr gern.»
Auf den ersten Blick wirken solche Sätze harmlos – nicht zuletzt, weil viele junge Eltern sie selbst als Kind oft gehört haben. Tatsache aber ist: Damit begeben sich Eltern in Richtung der psychischen Gewalt.
«Das Kind fühlt sich durch solche Sätze abgewertet und verletzt», sagt Elternbildnerin Daniela Holenstein. «Es bekommt das Gefühl, wertlos zu sein oder nur unter bestimmten Bedingungen geliebt zu werden.»
Wenn Eltern wichtige Bedürfnisse der Kinder bedrohen
Dominik Schöbi ist Psychologe und leitet das Institut für Familienforschung und -beratung an der Universität Fribourg (IFF). Er sagt: «Psychische Gewalt ist dann im Spiel, wenn die Eltern wichtige Bedürfnisse ihrer Kinder bedrohen: das Bedürfnis nach Unversehrtheit, Schutz, Anerkennung, Respekt, Geborgenheit oder Zugehörigkeit.» Dann, wenn Eltern drohen würden, das Kind zu verlassen, wenn sie es erniedrigen oder lächerlich machen würden. «Wenn sie zu ihm sagen, dass sie es nicht mehr gernhaben oder ihm mit Schlägen drohen.»
Der Psychologe erforscht das Bestrafungsverhalten von Schweizer Eltern. Seine Untersuchungen zeigen, dass fast 60 Prozent aller Eltern psychische Gewalt in der Erziehung anwenden, bis zu 25 Prozent tun dies regelmässig. Dominik Schöbi geht davon aus, dass die Zahlen noch höher sind, denn: «Wir haben jeweils nur einen Elternteil befragt und gehen davon aus, dass beide Eltern gleich reagieren.»
Die Folgen von psychischer Gewalt können gravierend sein: von kurzzeitigen Schlafstörungen oder schlechteren Schulleistungen über ein vermindertes Selbstwertgefühl, oder Ängste bis Depressionen im jungen Erwachsenenalter.
Auch Daniela Holenstein hatte als junge Mutter immer wieder Konflikte mit ihren Kindern. Die Eltern- und Erwachsenenbildnerin schöpft bei ihren Kursen aus diesen Erfahrungen. Als ihre vierjährige Tochter ihr mit einem «Entweder-Oder» (ein Ultimatum, das nach dem Prinzip funktioniert: Entweder du machst x, oder ich mache y) drohte, wusste sie, dass sie etwas ändern musste. «Denn das hatte sie bei mir abgeschaut.»
Alternativen zu dieser «Entweder-Oder»-Haltung fand sie in der gewaltfreien Erziehung. Sie war bei ihrer Tochter damit so erfolgreich, dass sie diese Erziehungshaltung in Kursen und Beratungen weitergibt.
Hart in der Sache, warm als Mensch
Der Grundsatz der gewaltfreien Erziehung lautet: «Eltern vermitteln klare Normen und Werte, sind manchmal hart in der Sache und sagen Nein. Dabei bleiben sie aber als Mensch warm und emotional erreichbar.»
Das klinge einfach, sei es aber nicht, sagt Holenstein. Weil viele junge Eltern es nicht anders kennen: «Früher haben sich viele Eltern kompromisslos durchgesetzt und ihre Kinder bestraft.» In Stresssituationen greifen junge Eltern automatisch und oft unbewusst auf das zurück, was sie kennen.
In ihrem Kurs «Starke Eltern – Starke Kinder», den sie im Auftrag der Stiftung Kinderschutz Schweiz durchführt, müssen sich Eltern also zuerst selbst reflektieren. Wer bin ich? Woher komme ich? Welche Werte möchte ich weitergeben? Erst danach stellt sie den Eltern verschiedene «Werkzeuge» vor, die diese in verfahrenen Situationen oder bei einer drohenden Eskalation einsetzen können.
Der Wunsch nach Gelassenheit
«In meinen Kurs kommen ganz normale Eltern, die aber zu oft ein schlechtes Gewissen haben. Weil sie zu oft schreien und drohen. Sie wollen gelassener werden», sagt Daniela Holenstein.
Auch Stephan hat den Kurs besucht. Zwei Jahre ist das mittlerweile her. Für ihn als alleinerziehenden Vater einer fünfjährigen Tochter und eines siebenjährigen Sohnes hat sich seither enorm viel verändert.
«Vor dem Kurs war ich sehr stark mit mir selbst beschäftigt», reflektiert er. «Im Kopf war ich schon bei der Arbeit. Die Bedürfnisse der Kinder hatte ich kaum auf dem Radar. Ich habe ihnen nicht richtig zugehört – und über ihre Köpfe hinweg entschieden.»
Ich-Botschaften wirken Wunder
Aktives Zuhören ist ein Werkzeug von vielen, das die Teilnehmenden im Kurs von Daniela Holenstein lernen. Ausreden lassen, lautet dabei die Devise. Dabei kann es passieren, dass dem Kind selbst eine gute Lösung in den Sinn kommt, um die Konfliktsituation aufzulösen.
Ein anderes Werkzeug sind Ich-Botschaften. Man formuliert dabei seine eigenen Wünsche und Sichtweisen, zum Beispiel: «Mir ist es wichtig, dass dieser Teller nicht kaputtgeht, deshalb bitte ich dich, ihn nicht auf den Boden zu werfen.»
Stefan meint: «Mittlerweile wirken die Ich-Botschaften bei uns Wunder. Ich gehe gar nicht mehr mit dem ‹Du› auf die Kinder zu. Sie bekommen schon genug Befehle und sind übersättigt.» Stephan sagt nicht mehr «zieht euch an», sondern: «Ich ziehe mich jetzt an, weil ich pünktlich sein möchte.» Die Kinder ziehen fast immer mit und ahmen ihn mittlerweile auch nach.
Erklären statt drohen
Auch nach dem achtteiligen Kurs und zwei Jahren Erfahrung in gewaltfreier Erziehung gerät Stephan manchmal noch in Konfliktsituationen mit seinen Kindern. Meistens nach einem stressigen Arbeitstag. Wie vor kurzem, als er seinem Sohn gedroht hat, weil er nicht mitkommen wollte. Aber es kommt sehr viel seltener vor.
Wenn Stephan dann doch mal laut wird, atmet er tief durch, entschuldigt sich bei seinen Kindern und erklärt sich so, dass sie es verstehen: «Stell dir vor, dass du den ganzen Tag Mathe gehabt hättest. Ohne Pause, ohne Spielplatz, ohne Znüni – so fühle ich mich. Deshalb brauche ich jetzt eure Unterstützung beim Aufräumen.»
Grenzen sind Schutzmassnahmen
Gegenseitiges Verständnis schaffen und die Bedürfnisse der Kinder erkennen und verbalisieren – das sind wichtige Bausteine der gewaltfreien Erziehung. Genau wie Grenzen. In der gewaltfreien Erziehung sind Grenzen Schutzmassnahmen, darunter fallen etwa Velohelm tragen und Zähne putzen.
«Bei Grenzen wird nicht verhandelt. Eine kurze Erklärung reicht. Es gibt keine Bestrafung und keine Belohnung», sagt Holenstein. «Über alles andere müssen Kinder mit ihren Eltern verhandeln können.» Die Elternberaterin meint damit, dass Regeln und Vereinbarungen, die man als Familie gemeinsam aufstellt, verhandelt werden müssen.
«Es ist anstrengend, aber eine gute Investition»
Soll man wirklich immer alles verhandeln? «Ja, denn das Kind möchte gesehen werden, sich seinem Potenzial entlang entwickeln können. Für uns Eltern bedeutet das, dass wir uns für das Kind interessieren müssen», sagt Daniela Holenstein.
«Es ist anstrengend», weiss der Vater Stephan aus Erfahrung. Es brauchte viel Geduld, Durchhaltewille, Übung und viele Monate, bis die Werkzeuge wirklich automatisch abrufbar waren. Sowie eine ganze Menge Post-its mit dem Vermerk «Ich-Botschaften» oder «Bedürfnisse erkennen», die er in der ganzen Wohnung aufhing. Es ist eine gute Investition in die Zukunft, davon ist er überzeugt.