Beschimpfungen, eine Ohrfeige hier, eine Erniedrigung da. Gewalt in Kinderzimmern ist in der Schweiz nach wie vor an der Tagesordnung. Laut einer neuen Studie der Universität Freiburg wenden knapp 40 Prozent der Eltern bei der Erziehung physische Gewalt an, 20 Prozent psychische.
Gewalt und entwürdigende Praxen in der Erziehung haben keine Legitimität mehr.
Ein neuer Artikel im Zivilgesetzbuch soll das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Gesetz verankern. Die Fachwelt hat sich heute zu einer Tagung von Kinderschutz Schweiz in Bern getroffen, und diskutiert, was dieser bewirken kann.
Von einer Zäsur und einem «Motor für einen Kulturwandel» spricht Stefan Schnurr, wenn er vom neuen Gesetzesartikel spricht. Der Leiter des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) betont: «Gewalt und entwürdigende Praxen in der Erziehung haben keine Legitimität mehr.»
Stoppsignal gegen Entwürdigung
Ein solches Gesetz sei wie ein Stoppsignal für Eltern, die ihre Kinder mit Gewalt erziehen würden. Erstmals würde damit der Staat laut Schnurr in die Erziehung eingreifen und damit in etwas sehr Privates.
Das Schlüsselwort im Gesetz heisse dabei «entwürdigend», betont Schnurr. Denn nicht jede Bestrafung sei künftig verboten, aber alles, was entwürdigend für das Kind sei. Das Wohlergehen der Kinder sei ein derart wichtiges Gut, dass man hier in die Zuständigkeit der Eltern eingreifen dürfe.
Stagnation nach grossen Fortschritten
Grundsätzlich sei die Gewalt an Kindern in den letzten 30 Jahren zurückgegangen, sagt Dominik Schöbi von der Universität Freiburg. Bereits zum sechsten Mal hat er Eltern in einer repräsentativen Studie dazu befragt.
Eine deutliche Häufung von Gewalt zeigt sich gegen Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren.
In den letzten fünf bis sechs Jahren stellt Schöbi allerdings eine Stagnation fest. So zeige sich vor allem eine deutliche Häufung von Gewalt in der Altersgruppe zwischen drei und sechs Jahren.
Steigend: Gewalt aus Überforderung
Dabei gibt es laut Schöbi grundsätzlich zwei Gruppen von Eltern: Stark zurückgegangen sei die Zahl jener Eltern, die eine Ohrfeige oder Schläge auf den Hintern als Erziehungsmittel betrachten.
Gewachsen sei in den letzten drei Jahrzehnten dagegen die Zahl jener, die aus Überforderung zu Gewalt greifen: «Mit den Nerven am Ende, gestresst oder erschöpft am Ende des Tages – so begründen sie, dass ihnen ‹die Hand ausgerutscht› ist und sie zu Gewalt gegriffen haben.»
Gutes Echo bei Eltern und Fachkräften
Die Befragung hat zugleich ergeben, dass eine überwältigende Mehrheit der Eltern einen solchen Gesetzesartikel zum Schutz der Kinder begrüssen würde. Denn so wäre klar, was verboten ist.
Man kann als Fachperson den Eltern sagen: Das geht hier nicht, das Recht erlaubt das nicht.
Aber auch für Fachpersonen wie Lehrkräfte, Schulsozialdienste oder Mütter- und Väterberaterinnen sei es wichtig, auf einen Gesetzesartikel verweisen zu können, findet Schnurr: «Man kann als Fachperson den Eltern sagen: Das geht hier nicht, das Recht erlaubt das nicht.»
Knackpunkt: kantonale Beratungsstellen
Fachpersonen könnten also im Gespräch mit Eltern auf eine Rechtsgrundlage verweisen. Und da kommt auch der zweite Teil des geplanten Gesetzes zum Zug, wonach die Kantone Beratungsstellen schaffen sollen, an welche sich Eltern wenden können.
Darin wird wohl auch die Krux am neuen Gesetz liegen. Denn 26 Kantone dürften unterschiedliche Vorstellungen von einem solchen Beratungsangebot haben. Zurzeit läuft die Vernehmlassung. Die Beratung im Parlament wird frühestens in einem Jahr beginnen.