Sie sausen durch Schaufenster, blicken uns von Adventskalendern und Weihnachtskarten entgegen, baumeln selig lächelnd am Christbaum: die Engel. Momentan haben sie Hochkonjunktur.
Und guten Grund dazu: Denn ihrem Herrn und Meister, Gott, laufen sie zunehmend den Rang ab. Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) glaubten 2019 45 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer in irgendeiner Form an «Engel oder übernatürliche Wesen, die über uns wachen.» Wohingegen 41.7 Prozent angaben, entweder an einen einzigen oder an mehrere Götter zu glauben. 2014 waren es noch 46.2 Prozent.
Fragt man im Internet oder im privaten Umfeld, findet man Berichte, in denen Engel Menschen bei schlimmen Verlusten halfen. Auch bei Schulprüfungen sollen die Himmelsboten schon ihre Fingerchen im Spiel gehabt haben. Und natürlich fungieren sie oft auch als Schutzengel.
Ein Hauch von Nichts
Wie Engel dargestellt werden, verändert sich stetig. Im Laufe der Zeit scheinen sie an Masse verloren zu haben: Kann man sie in der Rokoko-Kunst als wohlgenährte, nackte Putten bewundern, werden sie bei Paul Klee (1879–1940) nur noch mit wenigen Strichen gezeichnet.
In zeitgenössischen Zeugenberichten beschreibt man sie gar als körperlose, ätherische Wesen mit Flügeln, als durchsichtige menschenartige Erscheinungen – oder bloss noch als blendend helle Lichterscheinungen.
So zumindest hat es eine Frau erlebt, die der reformierten Kirche angehört und Folgendes erzählt: Sie war gerade frisch Mutter geworden, lebte im Ausland und war am Ende ihrer Kräfte. In diesem Moment der Verzweiflung hätte sie eine unerklärliche Begegnung gehabt: Im Zimmer des Neugeborenen tauchte plötzlich eine leuchtend helle Gestalt auf.
Begleitet und getragen
Für sie war schnell klar: Das ist ein Engel. Er strahlte so viel Wärme und Zuversicht aus, dass sie daraus Mut und Vertrauen schöpfte und sich auch in Zukunft begleitet und getragen fühlte. Das klingt nach einem wahren Schutzengel.
«Die Vorstellung, dass jeder Mensch ein Wesen an seiner Seite hat, das ihn beschützt und helfend zur Seite steht, kommt aus der jüdisch-christlichen Tradition», sagt Religionswissenschaftler Bastiaan van Rijn.
Er hat schon viele Engelserfahrungen studiert und in seiner Sammlung von Engelsgeschichten finden sich immer wieder ähnliche Wendungen.
Zum Beispiel: Ein Kind renne auf eine stark befahrene Strasse, und plötzlich tauche aus dem Nichts ein zweites Kind auf, stoppe es und bringe es zurück. Wenn die Eltern ihm danken wollen, sei es verschwunden.
Engel sei Dank?
Oder: Jemand schwimme im See, werde von einer Strömung heruntergezogen, und eine unsichtbare Hand ziehe ihn heraus. Van Rijn kennt aber auch Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg, in welchen ganze Kompanien berichten, Engel hätten sie vor den feindlichen Truppen geschützt.
Van Rijn selbst glaubt nicht an die Boten Gottes, trotzdem faszinieren sie ihn. Die römisch-katholische Kirche hingegen hat niemals an der Existenz von Engeln gezweifelt. Der verstorbene Papst Benedikt XVI. betonte, es sei biblisch gestütztes Wissen, dass Engel die «Grösse und Güte des Schöpfergottes» widerspiegeln.
Biblische Boten
Im ersten und zweiten Testament wimmelt es nur so von ihnen. Sie tauchen oft in entscheidenden Situationen auf und künden Geschehnisse an. Engel sorgen dafür, dass der Wille Gottes umgesetzt wird, und bringen göttliche Botschaften, die einen Wendepunkt herbeiführen und dem Leben eine neue Richtung geben.
In Psalm 91 befiehlt Gott seinen Helfern zudem, den Menschen auf all seinen Wegen zu behüten. Und auf Händen zu tragen, damit sein «Fuss nicht an einen Stein stösst». Klingt himmlisch – und praktisch.
Allerdings legt sich in der Erzählung der Genesis einer der Himmelsboten mit einem Menschen an, mit Jakob. Sie kämpfen die ganze Nacht hindurch, ohne dass sich ein Sieger abzeichnet. Bloss durch das Versprechen eines Segens lässt Jakob den Geflügelten weiterziehen.
Schreckliche Engel!
Engel waren also nicht immer so friedliebend und sanftmütig, wie sie heute gern dargestellt werden. Denken wir nur an die Engel, die in der Weihnachtsgeschichte vorkommen. Die Jungfrau Maria erschrickt, als sie den Erzengel Gabriel sieht, der ihr die Empfängnis Jesu verkündet.
Und die Hirten fürchten sich, als sie den Engel und die himmlischen Heerscharen erblicken, die herabsteigen und ihnen ebendiese Geburt eröffnen.
Den vor Schreck erstarrten Menschen reden sie in der Regel gut zu. «Fürchtet euch nicht» ist einer der Sätze, die sie zuvorderst auf den Lippen tragen.
Wie sie wohl aussehen, diese Engel, dass sie so furchteinflössend wirken? Manchmal ist von einem Feuerleib die Rede und freilich gibt es auch die gefallenen Engel. Solche also, die einst gut waren, sich aber von Gott abwandten. Namentlich Luzifer, der als Fürst der Dämonen gilt. Er ist in der christlichen Tradition nichts anderes als der Teufel. In Gestalt der Schlange verführt er die ersten Menschen im Paradies zur Sünde.
Überhaupt stiften Luzifer und seine Untergebenen, die bösen Engel, Menschen zu schlechten Taten an. Sie können also auch Verderben bringen, die Himmelsboten.
Ein Engel für alle Fälle
Pascal Voggenhubers Engel gehört zu jenen mit einem guten Wesen: Der Autor und Coach, der sich einst zum Medium ausbilden liess, sagt, er könne Schutzengel sehen: die anderer Menschen – und auch seinen eigenen. Zoey, so nennt er ihn. Schon seit über 40 Jahren kenne er ihn. Aufgefallen sei er ihm erstmals als Kleinkind.
Drei Jahre alt sei er gewesen, als er fast täglich einen gleichaltrigen Freund an seiner Seite bemerkte. Voggenhuber spielte mit ihm, sie wuchsen gemeinsam auf.
Die Mutter, eine Religionslehrerin, wunderte sich zwar über den imaginären Freund, dachte aber, der Sohn hätte etwas viel Fantasie. Mit zunehmendem Alter begann Voggenhuber an sich selbst zu zweifeln: Warum sah er Dinge, die andere nicht erkennen konnten? Er bekam Angst, schizophren zu sein. Er sei schon zu Ärzten gegangen und die seien der unsichtbaren Welt gegenüber auch eher aufgeschlossen gewesen und hätten ihm diese Angst genommen.
Heute integriert er seinen Engel in den Alltag, bitte ihn manchmal um Zeichen oder Impulse, wenn er Rat brauche oder eine Entscheidung fällen müsse.
Wenn Engel navigieren
Bei den beiden geht es etwas profaner zu und her als in der Bibel. So habe Zoey ihm schon geholfen, als das Navigationssystem versagte. Der Engel melde sich aber auch in prekären Situationen, so Voggenhuber. Beim Besuch eines Londoner Museums habe er ihn auf einen Notausgang hingewiesen, kurz bevor ein Alarm losging und Panik ausbrach. Pascal Voggenhuber meint, jeder Mensch habe einen solchen Schutzengel an seiner Seite. Er nennt sie Geistführer.
Dazu erklärt der Religionswissenschaftler Bastiaan van Rijn: «Das ist typisch für die alternative Spiritualität, das ‹New Age›. Es herrscht die Überzeugung, Engel würden Menschen leiten, ihnen subtile Zeichen geben und darin unterstützen, uns selbst zu sein.»
Es vermischten sich darin unterschiedliche Wesen: Geistführer, Feen, die Geister von verstorbenen Familienangehörigen oder eben Engel.
Diese Vermischung gehe auf das Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Der Esoteriker Emanuel Swedenborg zum Beispiel schrieb damals viel über Engel. Christen waren inzwischen überzeugt, dass jeder Mensch verdiene, in den Himmel zu kommen, und die Hölle kein Ort für ewige Strafe sei.
Weil für diese Gruppen die Religion weicher wurde, können die Engel vielleicht gleichermassen weicher und hilfsbereiter werden. Das ist auch die Zeit, in der der Säkularismus beginnt.
Himmlische Sehnsucht
Ist es denn verwunderlich, dass Engel heute so populär sind? Vielleicht ist es einfacher, von einem Engel Hilfe zu erbitten als von Gott, weil uns die Engel in ihrer Gestalt näher sind. Das macht sie uns verwandt.
Gleichzeitig stechen sie heraus und rufen Sehnsüchte hervor, weil sie fliegen und unsterblich sind. Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, die eigenen Flügel aufzuspannen und davonfliegen zu können?