Der zweiteilige Dokumentarfilm «Leaving Neverland» konzentriert sich auf die Geschichten von zwei Männern, James Safechuck und Wade Robson, die darüber berichten, dass Michael Jackson sie als Kinder sexuell missbraucht habe.
Der Film ist aufwendig recherchiert, aber erzählt die Geschichte nur einseitig, aus der Perspektive der mutmasslichen Opfer und ihrer Angehörigen. Die Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing erklärt, wie mit solchen «Docutainment»-Formaten umzugehen ist und warum ein Film wie «Leaving Neverland» eine wichtige Diskussion anregt.
SRF: «Leaving Neverland» sorgt für grosse mediale Aufregung. Wird hier einem Popstar, dem man vor Gericht keine Vergehen nachweisen konnte, öffentlich der Prozess gemacht?
Die Reaktionen auf den Film erwecken tatsächlich die Anmutung einer öffentlichen Verhandlung. Aber die Anklage zielt nicht nur in eine Richtung. Die Stimmen in den sozialen Medien reichen von «Lasst dem Toten doch seine Ruhe!» bis «Ich höre mir keine Michael-Jackson-Songs mehr an».
Auf der einen Seite wird die Medienberichterstattung und ihre Fähigkeit, Wirklichkeit abzubilden, implizit in Zweifel gezogen. Auf der anderen Seite wird bezweifelt, dass Prominente überhaupt – moralisch oder durch die Justiz – zur Verantwortung gezogen werden.
Die Angehörigen von Michael Jackson sprechen von einer «öffentlichen Hinrichtung», weil der Sänger sich zu den Vorwürfen nicht mehr äussern kann. Teilen Sie diese Haltung?
Klar, Jackson kann sich nicht mehr dazu äussern. Aber das ist nicht das einzige Kriterium, das zählt. Sonst könnte man niemanden mehr moralisch zur Verantwortung ziehen, wenn er oder sie verstorben ist – egal, ob die Opfer darunter leiden, was früher vorgefallen ist.
Zudem zeigt der Film, dass die Opferrolle sich wandeln kann. Wade Robson hat mit seiner Zeugenaussage vor mittlerweile 14 Jahren einen wichtigen Beleg geliefert, um Jackson zu entlasten. Nun belastet ihn, dass er Jackson damals entlastet hat.
Viele der Vorwürfe gegen Michael Jackson standen schon vorher im Raum. Der Film liefert wenig neues Wissen, kriegt aber trotzdem viel Aufmerksamkeit. Warum jetzt?
Meiner Überzeugung nach hängt das auch damit zusammen, dass wir uns in den vergangenen Jahren viel stärker mit Pädophilie und Kindsmissbrauch beschäftigt haben. Durch grauenhafte Einzelfälle – aber auch durch die massive Berichterstattung über Missbrauch in schulischen Einrichtungen und in der katholischen Kirche.
Das neue Bewusstsein für dieses Thema rückt rückwirkend auch die Zauberwelt der Neverland-Ranch in ein neues Licht. Sie wurde ja in Anspielung an «Peter Pan» als Ort ewiger Kindheit glorifiziert.
Nicht nur Jacksons Starimage bröckelt. Investigative Formate wie «Leaving Neverland», aber auch der Dokfilm «Surviving R. Kelly», die mutmassliche Verbrechen aufdecken, boomen gerade. Sie sind aufwendig recherchiert, aber kaum ausgewogen. Ist das problematisch?
Diese Formate eint, dass sie eine Art verfilmte Paralleljustiz darstellen. Als sogenannte «Docutainment»-Formate arbeiten sie eine Geschichte aus einer parteiischen Perspektive auf.
Dabei mögen sie auf manche Betrachter zunächst objektiv wirken. Das wird auch durch das Visuelle und die Dramaturgie unterstützt. Aber es muss klar sein: Sie sind nicht objektiv, sie wollen es auch nicht sein.
In den meisten Fällen wird diese Voreingenommenheit auch explizit gemacht. Ob dies wirklich so verstanden wird, hängt davon ab, wie medienkompetent das jeweilige Publikum ist.
Besteht die Gefahr einer Vorverurteilung, wenn man den Vorwürfen, die der Film erhebt, eine Plattform gibt?
Wir müssen uns, ob nun als Medienkonsumenten oder als Journalistinnen, viel stärker zu einem differenzierten Blick anhalten. Es ist wichtig, diesen Dokumentarfilm zu zeigen. Aber sich dessen Voreingenommenheit nicht selbst zum Leitbild zu machen.
Medien übernehmen zwar eine Kontrollfunktion, aber sie sind keine Ermittler in einer Strafsache. Und schon gar keine Richter, die zu entscheiden hätten, wer im Recht ist.
Das Ganze braucht eine Einordnung, etwa in Form einer begleitenden Berichterstattung. Das ist die klassische Aufgabe von Journalismus: für Einordnung zu sorgen.
Es gibt in den USA eine Skepsis gegenüber der Unparteilichkeit von Medien. Giessen solche anwaltschaftlichen Doku-Formate Öl ins Feuer?
Diese Doku-Formate erheben nicht den Anspruch, Journalismus zu sein und gehen über das hinaus, was das Konzept des anwaltschaftlichen Journalismus ausmacht.
Was anwaltschaftlicher Journalismus will – und weshalb ich ihn für ein berechtigtes Konzept halte – ist jenen, die sonst nicht zu Wort kommen, eine Stimme zu geben. Es geht nicht darum, eine Position völlig zu vernachlässigen, sondern die Position von Akteuren zur Geltung zu bringen, die ansonsten wenig Wortmacht haben. Nach dem Motto: «Giving a voice to the voiceless».
Hat die #MeToo-Debatte und die Tatsache, dass jede und jeder an ihr teilhaben kann, Prominente angreifbarer gemacht?
Ein Stück weit verändert sich da aktuell sicher etwas. Aber wirklich wirkungsmächtig werden in sozialen Medien geführte Diskurse oft erst, wenn journalistische Massenmedien sie aufgreifen und sie in der realen Welt Folgen haben.
Bei #MeToo wurden, zumindest in der Kinobranche, Akteure zur Verantwortung gezogen. Etwa Kevin Spacey, der aus dem Ridley-Scott-Film geschnitten und aus der letzten Staffel von «House of Cards» gestrichen wurde.
Einzelne Radiosender spielen seit «Leaving Neverland» keine Songs mehr von Michael Jackson. Wird der Film sein Erbe nachhaltig beeinflussen?
Was Jackson für die Popkultur und musikalisch geleistet hat, bleibt als Leistung bestehen. Denn die Anschuldigungen beziehen sich ja nicht auf das Werk, sondern auf denjenigen, der es geschaffen hat.
Dessen Persönlichkeit wird man künftig sicher deutlich kritischer betrachten. Wobei es sicher darauf ankommt, mit welcher Einstellung jemand sich die Dokumentation ansieht. Ein eingefleischter Jackson-Fan wird ihn anders sehen als jemand, der selber tangiert ist von Missbrauch.
Welche Relevanz haben dann Tatsachen noch?
Sie abzubilden ist entscheidend, damit ich als Zuschauerin ein Gefühl für Wirklichkeit bekomme. Wenn ich darauf vertrauen kann, dass das, was mir an Realität vorgesetzt wird, auch überprüfte Fakten sind.
Gleichzeitig gibt es, gerade im Privaten einer Person, auch Grenzen des Beobachtbaren. Manches weiss man einfach nicht. Wenn selbst die polizeilichen Ermittler und die Gerichte an ihre Grenzen stossen: Weshalb sollte sich da eine Öffentlichkeit anmassen können, dass sie ganz genau weiss, was auf Neverland passiert ist?
Was kann ein Film wie «Leaving Neverland» bewirken?
Die Dokumentation ist ein Aufreger. Aber sie kann auch Anregung und aktueller Aufhänger sein, sich mit dem Thema Missbrauch zu beschäftigen. Etwa die vielen Faktoren aufzuzeigen, die dabei eine Rolle spielen.
So wird etwa in «Leaving Neverland» darüber nachgedacht, welche Rolle die Eltern von James Safechuck und Wade Robson spielten. Sie liessen diese als Buben auf der Neverland-Ranch übernachten, weil sie sich offenbar dachten: Das ist doch toll, wenn sich ein Star wie Michael Jackson für uns und unsere Jungs interessiert. Solche Fragen, die auch für andere Missbrauchsfälle relevant sind, kann man neu beleuchten.
Das Gespräch führte Mirja Gabathuler.