Wenn der 16-jährige Maksym von seiner Kindheit in der Ukraine erzählt, ist der Schmerz der letzten drei Jahre weit weg. «Jeden Abend haben sich die Kinder unserer Siedlung auf dem grossen Spielplatz getroffen.» Maksym erinnert sich gerne an diese Zeit. «Wir haben Fangen gespielt, oder Durak – ein Kartenspiel, ähnlich wie Jass.»
Maksym wächst im Südwesten der Ukraine in der Stadt Iwano-Frankiwsk auf. Im Jahr vor dem Kriegsausbruch verliebt er sich in ein Mädchen aus seiner Klasse. Sie wird seine erste Freundin. «Am Wochenende machten wir jeweils mit Freunden Fahrradtouren in die Natur.» Er sagt: «Ich hatte eine perfekte Kindheit.»
Am 24. Februar 2022 ist diese Kindheit mit einem Schlag vorbei. An diesem Tag marschiert Russland in die Ukraine ein. Maksym ist 13, als er mit seiner Familie seine Heimat verlässt.
«Ich habe absolut nichts verstanden»
Während des ersten Zwischenstopps in Polen erhält Maksym eine Textnachricht seiner Freundin. «Sie schrieb, wegen des Krieges könnten wir nicht mehr zusammen sein», sagt er. Für Maksym bricht eine Welt zusammen. «Ich hatte mein Zuhause, meine Freunde und jetzt auch meine Freundin verloren.»
Maksym und seine Familie schaffen es bis in die Schweiz. Das erste Jahr kommen sie bei einer Familie in der Nähe von Bern unter. Doch der junge Ukrainer hat zunächst Mühe mit dem Wechsel. «Am Anfang habe ich jede Nacht geweint.» In der Schweizer Schule sind die Kinder zwar nett, trotzdem fühlt sich Maksym als Aussenseiter. «Alle haben Dialekt gesprochen, ich habe absolut nichts verstanden.» Maksym, der in seiner Heimat viele Freunde hatte, fühlt sich in der Schweiz sehr einsam.
Instagram wird zum Problem
Die ersten zwei Jahren in der Schweiz leidet Maksym unter Heimweh. «Ich konnte mir nicht vorstellen, in einem anderen Land als in meiner Ukraine zu leben.» Ein grosses Problem ist Social Media. Instagram und Co. wären zwar auf den ersten Blick ideal, um mit Freunden weit weg in Kontakt zu bleiben, doch bei Maksym ist es anders.
Ich musste jedes Mal weinen, wenn ich Insta geöffnet hatte.
Denn trotz Krieg geht im Südwesten der Ukraine ein Teil des Alltagslebens weiter. So macht seine Schulklasse zum Abschluss einen mehrtägigen Ausflug in die Berge. Maksym verfolgt alles via Instagram. «Sie haben ein schönes Hotel gemietet, hatten Spass – und ich war nicht dabei.»
Das Heimweh und der Schmerz über diese verpasste Abschlussreise sind zu viel für Maksym. «Ich musste jedes Mal weinen, wenn ich Insta geöffnet hatte.» Daraufhin löscht er seinen Instagram-Account.
Trotz allem schafft es Maksym, schnell Deutsch zu lernen und beginnt die Fachmittelschule FMS in Bern. Gleichzeitig hat der 16-Jährige die ganz normalen Probleme eines Teenagers: «Ich habe mich in dieser Zeit oft mit meinen Eltern gestritten.» Häufig geht es um die Schule. Die Eltern sagen, Maksym solle mehr lernen. «Jetzt tut mir das sehr leid, dass ich mich gegen meine Eltern aufgelehnt habe. Sie hatten ja meistens recht.»
Durch Zufall in die Schweiz
Ein anderer ukrainischer Jugendlicher hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Auch er heisst Maksym, ist heute 19 Jahre alt und kommt aus Odessa im Süden der Ukraine. Als er vor drei Jahren mit seiner Mutter in der Schweiz flüchtete, hatte er keine Ahnung von diesem Land: «Ich wusste nicht einmal, welche Sprache in der Schweiz gesprochen wird.»
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Bild 1 von 3. Odessa, die Millionenmetropole am Schwarzen Meer, ist die bedeutendste Hafenstadt der Ukraine. (Aufnahme von 2019). Bildquelle: imago images/Dreamstime.
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Bild 2 von 3. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine prägen Elemente der Stadtverteidigung, wie Sandsackbarrieren, das Stadtbild – wie hier im September 2022. Bildquelle: imago images/NurPhoto.
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Bild 3 von 3. Russische Angriffe auf die Stadt richteten im Laufe des Krieges Zerstörungen an und forderten zahlreiche Verletzte und Todesopfer. Bildquelle: imago images/NurPhoto.
Die Schweiz als Fluchtziel ergibt sich spontan, als in einem Bus eines Hilfswerkes noch zwei Plätze frei sind. «Auf der Fahrt hatte ich keine Internetverbindung und konnte mich nicht informieren.» Es ist eine Fahrt ins Ungewisse.
In der Schweiz vermisst der 19-Jährige seine Freunde und das Meer. «Ich liebte es, im Schwarzen Meer zu schwimmen. Hier war ich oft im Bielersee, aber das ist nicht das Gleiche.» Maksym besucht einen Deutsch-Intensivkurs, wo er viele gleichaltrige Ukrainerinnen und Ukrainer kennenlernt.
«Ich habe keine Heimat mehr»
Der 19-jährige Maksym aus Odessa findet sich im Gegensatz zu Maksym aus Iwano-Frankiwsk schnell zu Recht. «Ich bin ein optimistischer Mensch und versuche immer, die Vorteile zu sehen.» Er findet eine Lehrstelle als Restaurant-Fachmann und wohnt in einer Wohngemeinschaft.
Ich kann mir vorstellen, hier zu bleiben.
Nur die Frage nach seiner Heimat bringt Maksym ins Grübeln: «Ich kann nicht sagen, wo meine Heimat ist – ich habe keine mehr.» Während dem ersten Jahr in der Schweiz habe sich die Ukraine immer noch als Heimat angefühlt. «Jetzt nach drei Jahren in der Schweiz habe ich schon viel von der Ukraine vergessen – meine Heimat ist das nicht mehr.»
Obwohl er sich in der Schweiz eingelebt hat, daheim fühlt er sich auch hier nicht: «Da ich noch nicht Schweizerdeutsch spreche, fühle ich mich nicht wirklich integriert.» Und doch: Maksym sieht seine Zukunft in der Schweiz. «Ich kann mir vorstellen, hier zu bleiben», sagt er.
Zurück in die Ukraine – der Kinder wegen
Die Geschichten der beiden Maksyms stünden aber nicht stellvertretend für alle ukrainischen Jugendlichen in der Schweiz. Das sagt Irina Cherednychenko, Geschäftsführerin des Vereins «Ukraine-Hilfe Bern»: «Es gibt sehr unterschiedliche Geschichten.»
Dass ukrainische Jugendliche eine Lehrstelle finden oder sogar ans Gymnasium gehen, sei eher die Ausnahme. Viele hätten Mühe mit der Sprache. «Ohne gute Sprachkenntnisse sind sie sozial isoliert. Viele Jugendliche sind einsam und leiden», so Irina Cherednychenko. «Ich weiss von zwölf Familien, die wieder zurückgegangen sind. Unter anderem, weil die Kinder keinen Anschluss gefunden haben.»
Alle sieben Minuten eine Tram?
Was die beiden Maksyms bewegt, kennt Mergim Vukshinay gut – denn er trainiert ukrainische Geflüchtete in seiner Sportschule. Wie schwierig die Flucht in ein fremdes Land im Jugendalter sein kann, weiss er dazu noch aus eigener Erfahrung: Vor 23 Jahren flieht er aus dem Kosovo in die Schweiz. Der heute 37-Jährige sagt: «Ich war am Anfang überfordert und wollte nicht hier bleiben.»
Es seien kleine Dinge gewesen, die ihn damals als 14-Jährigen irritieren: «Dass alle sieben Minuten ein Tram kommt, war ungewohnt. Dass man in der Schule wegen zwei Minuten Verspätung gemassregelt wurde, war ungewohnt.»
Weil Vukshinay kein Deutsch spricht, verkehrt er am Anfang fast nur mit Kosovo-Albanern. «Für die Integration war das natürlich nicht hilfreich.» Wie Maksym aus Iwano-Frankiwsk musste sich auch der 14-jährige Mergim Vukshinay nicht nur integrieren, sondern auch mit den Herausforderungen der Pubertät zurechtkommen. «Es ist ein schwieriges Alter, in dem man so oder so Probleme hat.»
«Ich weiss genau, wie sie sich fühlen»
Nach drei Monaten in der Schweiz besucht Mergim Vukshinay einen Karateklub. Heute sagt er: «Das war damals die beste Entscheidung – für mich und meine Integration.» Er habe durch das Karatetraining sofort Kontakt zu vielen Menschen gehabt. «Dadurch war ich schneller im Leben in der Schweiz.»
Die Liebe zum Kampfsport ist geblieben. Heute führt Mergim Vukshinay eine eigene Kampfsportschule mit über 100 Mitgliedern. Davon sind viele Kinder und Jugendliche, die oft in einer ähnlichen Situation stecken, wie Vukshinay vor 23 Jahren. Denn viele kommen aus Afghanistan oder der Ukraine. «Ich weiss genau, wie sie sich fühlen und verstehe ihre Situation», sagt er. Es sei schön zu sehen, dass sich viele der ausländischen Jugendlichen «Schritt für Schritt integrieren.»
Integration ist nicht in fünf Jahren gemacht.
Mergim Vukshinay selbst kann die Frage nach seiner Heimat nach Jahrzehnten in der Schweiz ganz klar beantworten: «Ich bin Albaner, Blut kann man nicht wechseln, aber ich fühle mich sehr wohl in der Schweiz. Hier bin ich daheim.» Richtige Integration benötige aber Zeit, sagt er. «Das ist ein langwieriger Prozess. Das ist nicht in fünf Jahren gemacht.»
Die Hoffnung und die Liebe
Dass Integration Zeit benötigt, während eigene Träume und Ziele manchmal warten müssen, bekommt auch der 19-jährige Maksym zu spüren. Sein Traumberuf wäre eigentlich Informatiker, und in der Ukraine hätte er ein entsprechendes Studium aufgenommen. Nun ist er im ersten Lehrjahr als Restaurations-Fachmann. «Das ist ok für mich. Ich kann nach der Lehre immer noch die Berufsmatura machen und später studieren gehen», sagt er.
Auch der 16-jährige Mittelschüler Maksym schaut positiv in die Zukunft. «Ich habe verstanden, dass ich hier in der Schweiz Perspektiven habe.» Er träumt von einem eigenen Geschäft. «Ich möchte Handys, Tablets oder Computer reparieren.» Auf die Frage, ob er sich dieses Geschäft in der Ukraine oder in der Schweiz vorstelle, kommt die Antwort rasch: «In der Schweiz. Hier habe ich jetzt ein neues Leben.»
Ein Grund, warum er wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blickt, ist die Liebe. «Ich habe eine Freundin gefunden. Sie kommt auch aus der Ukraine und ist am Gymnasium.» Er habe sie in einem Sommerlager für ukrainische Flüchtlingskinder kennengelernt. «Wenn sie nicht aufgetaucht wäre und meinem Leben eine neue Richtung gegeben hätte – keine Ahnung, was ich jetzt machen würde.»