Das «Ibiza» ist eine Institution in Odessa. Ein Strandclub, direkt am Meer: hier liegen normalerweise tagsüber die Schönen und Reichen an der Sonne. Nachts wird wild gefeiert: getrunken, geflirtet, getanzt.
An diesem Abend aber wirkt das Ibiza trostlos: Kaum ein Mensch ist da. Die Bässe dröhnen über die leere Tanzfläche, über den geschlossenen Pool und die verwaisten Liegestühle rüber zum Meer. Der Krieg hat diesen Ort überbordender Lebensfreunde – mindestens an diesem Abend – in eine Ödnis verwandelt
Odessa: Schmelztiegel der Kulturen
Odessa ist eigentlich eine Perle am Schwarzen Meer. Die Altstadt gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Rund eine Million Menschen leben hier – unterschiedlichster Herkunft: neben Ukrainern und Russen ist Odessa auch Heimat für viele Juden, Armenier, Rumänen.
Lingua Franca in Odessa ist seit jeher Russisch. Doch Russland ist nun der Feind. In der Kathedrale von Odessa feiert ein einsamer Priester einen Gottesdienst. Nur die Kapelle im Keller kann derzeit ohne Gefahr benutzt werden. Die Kirche selbst ist im Juli von einer russischen Rakete schwer beschädigt worden.
«Ich war zu Hause, es gab Raketenalarm und dann hörte ich eine laute Explosion», erzählt Vater Miroslaw. Er sei sofort losgefahren und sei als einer der ersten vor Ort gewesen. «Überall lagen Trümmer, ein Teil des Kirchenschiffs brannte. Ich wollte mit einem Feuerlöscher die Flammen bekämpfen – aber das war aussichtslos. Deswegen rettete ich, was zu retten war.»
Christen sollen nicht töten. Christen sollen den Frieden predigen. Mit Kriegsbeginn haben wir sämtliche Kontakte abgebrochen zu denen, nach denen Sie gefragt haben.
Vater Miroslaw steht in der zerstörten Kathedrale. Das Dach hat grosse Löcher, es regnet rein. Prächtige Goldornamente verkohlt, Fresken von Raketensplittern verunstaltet, ein paar Säulen stehen bedrohlich schief.
Unbeschadet überlebt hat dagegen die Kasperskova-Ikone der Mutter Gottes, die Schutzpatronin von Odessa. «Ich habe die Ikone selbst herausgetragen. Sie blieb unbeschädigt – und das ist ein wahres Wunder. Denn sie lag im Epizentrum der Explosion», sagt der Priester weiter.
Russen greifen eigene Glaubensbrüder an
Der Angriff auf die Kathedrale von Odessa ist doppelt unverständlich: Das Gotteshaus gehört zur Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, die lange dem Patriarchen von Moskau unterstand. Die Russen haben also quasi ihre eigenen Glaubensbrüder angegriffen. Wie steht Vater Miroslaw zu dieser Verbindung seiner Kirche nach Russland?
«Christen sollen nicht töten. Christen sollen den Frieden predigen. Mit Kriegsbeginn haben wir sämtliche Kontakte abgebrochen zu denen, nach denen Sie gefragt haben», so Miroslaw. Der Kirchenmann nennt Russland nicht einmal beim Namen. Als wäre das Land der Teufel.
Mit jeder Rakete, mit jedem Luftalarm wächst unser Hass auf alles Russische.
Dabei hat Odessa russische Wurzeln. Die Stadt wurde 1794 von Zarin Ekaterina der Grossen gegründet. Der Kreml erhebt deswegen bis heute Anspruch auf Odessa. Eine Eroberung der Stadt war zu Beginn des Krieges ein wichtiges Ziel der Russen gewesen, scheiterte aber. Nun, mit ihren Angriffen, haben sich die Russen die meisten Sympathien verspielt.
«Mit jeder Rakete, mit jedem Luftalarm wächst unser Hass auf alles, was aus Russland kommt», sagt Henadij Truchanow, der Bürgermeister von Odessa. Er selbst ist ein gutes Beispiel für den Stimmungswandel in der Stadt: Truchanow war einst Politiker der prorussischen «Partei der Regionen». In den vergangenen Jahren – und verstärkt seit Kriegsausbruch – tritt er als ukrainischer Patriot auf.
Nun muss sich der Bürgermeister der Stadt mit den Folgen der russischen Angriffe auseinandersetzen: «Ich war vor unserem Interview gerade in einem Wohnhaus, das von einer russischen Rakete getroffen wurde. Die Leute haben alles verloren. Wir müssen jetzt die Trümmer wegräumen und den Betroffenen eine Unterkunft organisieren.»
Neue Welle des Patriotismus
Der Krieg hat Odessa eine neue Welle des Patriotismus gebracht. Auf den Strassen hört man so viel Ukrainisch wie wohl noch nie in der Geschichte der Stadt.
Doch Optimismus strahlt die Stadt keinen aus. Seit Kriegsbeginn steht der Hafen still, weil Russland ihn mit Kriegsschiffen blockiert. Und Touristen sind so gut wie keine unterwegs. Das kann auch Dmitri bestätigen, der in der zentralen Fussgängerzone einen Kaffeestand betreibt: «Mit jedem Angriff habe ich weniger Stammkunden. Manche getrauen sich wohl nicht mehr aus dem Haus – andere verlassen die Stadt. Und Touristen? Ach, das können wir gleich vergessen. Woher sollen die kommen in diesen Zeiten?»
Wir leben von einem Tag zum nächsten. Ich hoffe auf Frieden; ich hoffe so sehr, dass dieser Krieg bald endet.
Viele Odessiten wollen dennoch bleiben. So etwa die Familie von Zheli, die ein kleines Hotel betreibt. Die junge Frau mit aserbaidschanischen Wurzeln sitzt auf der Hotelterrasse und erzählt: «Früher hatten wir viele Touristen. Doch die kommen seit Kriegsbeginn nicht mehr. Nun wohnen Journalisten und Geschäftsleute bei uns. Dazu kommen manchmal auch Flüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine.»
Überhaupt, sagt Zheli, sei die Solidarität in der Stadt sehr gross gewesen – vor allem bei Kriegsbeginn. «Aber inzwischen haben viele Leute selber nicht mehr genug, die Reserven sind aufgebraucht.» Jeder müsse auch schauen, dass seine Familie durchkomme.
Jeder Luftalarm zehrt an den Kräften
Der Krieg dauert schon eineinhalb Jahre. Bei jedem Luftalarm gerät Zheli in Sorge – um ihre Kinder, ihre Familie, das Hotel. Das zehrt an den Kräften.
«Wir leben von einem Tag zum nächsten. Ich hoffe auf Frieden; ich hoffe so sehr, dass dieser Krieg bald endet», sagt Zheli, und wischt sich Tränen aus dem Gesicht.