Die russische Armee hat im Süden der Ukraine am Schwarzen Meer rasch Fortschritte gemacht und etwa die Stadt Cherson eingenommen. Odessa, eine wichtige Hafenstadt, blieb bisher verschont. Der Journalist Ibrahim Naber ist vor Ort. Er erläutert die Lage und erklärt, wie man sich dort auf die russischen Truppen vorbereitet.
SRF News: Seit Wochen bereitet sich die Bevölkerung in der Küstenstadt Odessa auf einen Angriff vor, gekommen ist er bisher noch nicht. Wie ist die Situation aktuell?
Ibrahim Naber: Die Situation ist seit Tagen gleich, die Stadt gleicht einer regelrechten Festung. Der gesamte Stadtkern von Odessa ist militärisch abgesperrt. Man kommt ohne Sondergenehmigung und ohne Begleitung eines Militärattachés nicht rein. Wir sind einmal in Begleitung eines Soldaten durchgelaufen und es ist gespenstisch ruhig. Die Geschäfte haben geschlossen. Überall stapeln sich Autoreifen und Sandsäcke. Überall stehen Soldaten und Panzer. Diese gesamte Stadt hat sich, auch mit der Kriegsproduktion, auf einen möglichen russischen Angriff vorbereitet.
Was denkt man in Odessa, warum man immer noch verschont geblieben ist?
Ich war gestern in Mykolajiw, etwa 80 bis 90 Kilometer von Odessa entfernt. Ich war auch auf einem Stützpunkt und habe überall eine ganz grosse Gewissheit gespürt, diesen Krieg zu gewinnen. Die Ukrainer sagen zum einen, alle – von Bauern auf dem Land bis zu den Soldaten – seien bereit, alles dafür zu tun, dass sie ihr Land behalten.
Eine wirklich grosse Furcht vor einem Angriff habe ich nicht gespürt. Ganz im Gegenteil.
Weiter gibt es in Bezug auf Odessa das Szenario, dass die russischen Kriegsschiffe den Beschuss von der Meerseite aus starten und es eine mögliche Landung am Strand von Odessa geben könnte. Uns Journalisten wurde gesagt, dieser Schritt, sollten sich die russischen Truppen dazu entscheiden, gleiche einem Selbstmordkommando. Die Ukrainer sagen, sie können in 20 Kilometer Reichweite russische Schiffe treffen, und sie wissen, dass die Russen hierherkommen wollen. Sie sichern also Strände und Seeseite ab. Eine wirklich grosse Furcht vor einem Angriff habe ich nicht gespürt. Ganz im Gegenteil.
Die Häfen am Schwarzen Meer sollen von ukrainischer Seite vermint worden sein. Das sagt der russische Geheimdienst.
Das stimmt. Ich habe am Sonntag ein Interview geführt bei Mykolajiw. Ein Meter neben mir war der Zugang zu einem Strand mit dem Schild: Bitte nicht betreten, Minen. Auch in Odessa soll es schon Menschen aus dem Ausland gegeben haben, die an der Hotelrezeption gefragt haben, ob sie nicht an den Strand könnten. Sie haben dann die Antwort bekommen, das wegen Minen lieber nicht zu tun.
Die Schwarzmeerküste ist aus strategischer Sicht enorm wichtig für die Russen.
Absolut. Odessa ist die grösste Hafenstadt des Landes und allein deswegen wirtschaftlich und militärisch enorm wichtig. Auch die Krim ist nicht weit weg. Und damit dieser Anschluss dieses gesamten Gebiets. Wenn Russland Cherson eingenommen hat und Mykolajiw und auch Odessa einnehmen sollte, hätte man diesen gesamten Streifen in russischer Hand.
Odessa ist die grösste Hafenstadt des Landes und wirtschaftlich und militärisch enorm wichtig.
Das wäre aus der Sicht von Putin und von Russland ein Riesenfortschritt, auch wenn Kiew erstmal nicht fallen sollte. Deswegen wird da so viel investiert. Aber noch halten die ukrainischen Truppen ihre Position sehr, sehr gut. Mir wurde sogar gesagt, dass die ukrainischen Truppen die russischen Truppen eher weiter Richtung Cherson zurückgedrängt hätten.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.