Bis vor drei Wochen war der Hafen von Odessa wichtigster Umschlagplatz für den Export von ukrainischem Getreide. Aber weil Russland das Getreideabkommen mit der Ukraine nicht mehr verlängerte, verlässt kein einziges Frachtschiff mehr Odessa. Und die Russen griffen im Juli mehrmals die Hafen- und Lagerinfrastruktur in der Stadt am Schwarzen Meer an. Die Ukrainer müssen ihr Getreide auf anderen Wegen exportieren.
SRF News: Was heisst die Schliessung des Hafens für die Wirtschaft von Odessa?
David Nauer: Die Schliessung des Hafens ist für die Stadt ein schwerer Schlag. Odessa ist eine Hafenstadt, sie lebt vom Hafen und mit dem Hafen. Ich habe mit dem Gemeindepräsidenten gesprochen. Er sagte, dass nicht nur die Leute, die direkt am Hafen arbeiten, ihre Jobs verloren haben, sondern dass auch viele Zulieferer, Firmen rund um den Hafen kaum mehr Arbeit haben. Die Russen blockieren den Hafen mit Kriegsschiffen, sie drohen, Schiffe zu versenken, die nach Odessa wollen. Der Kreml hat die Stadt einer ihrer wichtigsten Einkommensquellen beraubt.
Welche Spuren des Krieges sieht man im Zentrum der Stadt?
Mehrere historische Gebäude wurden schwer beschädigt. Ich war in der Kathedrale, die im Juli von einer russischen Rakete getroffen wurde. Da klafft ein riesiges Loch in der Decke, sodass es reinregnet.
Der Altar und zahlreiche Ikonen wurden zerstört, in einer Ecke ist alles schwarz, weil es dort gebrannt hat. Es ist ein Bild der Verwüstung. Ich habe auch an Wohnhäusern, an einem Museum und an einer Schule Schäden gesehen.
Ein anderer Wirtschaftszweig für die Stadt ist der Tourismus. Wie sieht es da aus?
Das ist die zweite wirtschaftliche Katastrophe für Odessa. Die Stadt lebte früher zu einem guten Teil vom Hafen und vom Tourismus. Beides fällt nun weg, viele Hotels stehen leer. Das trifft viele kleinere und mittlere Unternehmer schwer. Ich habe mit der Eigentümerin eines Hotels gesprochen. Sie sagte, weil es keine Touristen mehr hat, setze sie jetzt auf Journalistinnen und UNO-Mitarbeitende als Kundschaft. Und sie beherbergt Flüchtlinge aus anderen Teilen der Ukraine.
Ich habe auch in den letzten zwei Tagen mehrere Male Kritik an der Regierung in Kiew gehört.
Odessa ist ein Unesco-Weltkulturerbe, ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien. In welcher Stimmung haben Sie die Einwohnenden angetroffen?
Odessa ist eigentlich eine fröhliche Stadt, wo gerne gefeiert wird. Solche Momente gibt es noch, aber die Stimmung ist im Allgemeinen eher gedrückt. Die letzten Angriffe haben ein Gefühl von Unsicherheit hinterlassen. Und ich habe auch in den letzten zwei Tagen mehrere Male Kritik an der Regierung in Kiew gehört.
Die grosse Mehrheit schimpft und flucht über den Kreml und die russische Armee. Manche erwarten aber auch keine guten, raschen Lösungen von ihrer eigenen Regierung.
Die Leute sagen, in Kiew und am Fernsehen werde behauptet, alles laufe super, die Ukraine würde gewinnen. Aber sie selbst sähen ja, dass sich die Front kaum bewege, dass viele Soldaten getötet oder verwundet werden. Da stimme doch etwas nicht. Viele Leute fürchten, dass der Krieg noch lange dauern wird. Die grosse Mehrheit schimpft und flucht über den Kreml und die russische Armee. Manche erwarten aber auch keine guten, raschen Lösungen von ihrer eigenen Regierung.
Odessa hatte vor dem Krieg rund eine Million Einwohnerinnen und Einwohner. Wie viele von ihnen sind in der Stadt geblieben?
Der Gemeindepräsident sagte mir, dass immer noch gegen eine Million Menschen in Odessa lebe. Zahlreiche Einwohnende sind zwar geflohen, aber dafür haben viele zehntausend Flüchtlinge aus anderen Landesteilen in Odessa Unterschlupf gefunden. Man hat auch nicht das Gefühl, dass die Stadt richtig leer ist, aber die Touristinnen und Touristen, die fehlen schon.
Das Gespräch führte Daniel Hofer.