In der ostukrainischen Region um die Millionenstadt Charkiw konnte die Armee im letzten Herbst zahlreiche Städte und Dörfer von den russischen Angreifern zurückerobern. Seit kurzem greifen die Russen offenbar wieder verstärkt in der Region an. Die Journalistin Daniela Prugger befindet sich in Charkiw. Ihre Eindrücke schildert sie im Interview.
SRF News: Sie waren schon im Mai 2022 in Charkiw – was hat sich seither in der Stadt verändert?
Daniela Prugger: Damals war Charkiw eine Stadt direkt an der Front, die Menschen lebten die meiste Zeit in Bunkern und in den U-Bahn-Schächten. Damals war auch die Luftabwehr noch nicht auf dem heutigen Stand. Immer noch sichtbar sind viele Hausruinen, zahlreiche Häuser wurden noch nicht wiederaufgebaut. Der Luftalarm gehört hier aber immer noch zum Alltag.
Wie gehen die Menschen mit dieser Situation um?
Junge und gesunde Menschen haben mehr Möglichkeiten und können wegziehen, manche sind aber auch zurückgekehrt. Schwieriger ist es für ältere oder auf Hilfe angewiesene Menschen, die ihren Wohnort meist nicht verlassen können und die Situation ertragen müssen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind generell optimistisch, was die Zukunft angeht.
Generell sind die Menschen in der Ukraine aber optimistisch, was die Zukunft angeht. Besonders hinzugekommen ist in Charkiw ein tief sitzender Hass gegenüber Russland. Früher wurde fast nur Russisch gesprochen, heute praktisch nur noch Ukrainisch.
Was sind die grössten Sorgen der Menschen?
Die Männer – vor allem die jüngeren – befürchten, dass sie bald zum Kriegsdienst einberufen werden könnten. Die grösste Sorge der Menschen ist allerdings, dass der Krieg noch lange andauern könnte. Und gerade in Charkiw, das bloss rund 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt liegt, befürchtet man, dass man auch langfristig unter den Spannungen mit Russland leiden könnte.
Wie ist die Situation in den Dörfern im Umland von Charkiw?
In den zeitweise von den Russen besetzten Dörfern im Norden Charkiws sind viele Häuser immer noch Ruinen, die Menschen schildern die Zeit unter russischer Besatzung. Es gibt kaum Arbeit und keine Perspektive. Ausserdem sind viele Gebiete immer noch vermint, es besteht ständig die Gefahr von Explosionen. Die Minen sind hier mittelfristig wohl die grösste Herausforderung.
Sie leben selber in Kiew – wie gehen Sie mit der ständigen Kriegsgefahr um?
Ich bin oft mit ukrainischen Journalisten-Kollegen unterwegs, die über ein gutes Netzwerk verfügen. Allerdings muss man sich klar sein, dass es 100-prozentige Sicherheit in der Ukraine nirgends gibt.
Man muss sich das ständige Risiko hier in der Ukraine immer wieder bewusst machen.
Das zeigt der Raketenangriff der Russen auf die Pizzeria in Kramatorsk Ende Juni, die bei NGO-Mitarbeitern und Journalistinnen besonders beliebt war. Dabei starben mindestens 11 Menschen, mehr als 60 weitere wurden verletzt. Man muss sich das Risiko also immer wieder bewusst machen – auch wenn man sich an manche Tatsachen wie den täglichen Luftalarm in gewisser Weise gewöhnt.
Das Gespräch führte Vera Deragisch.