Das Gebäude am «Platz der Verfassung» in Charkiw hat eine bewegte Geschichte. Zur Zarenzeit war es eine Bank, dann machten die Sowjets ein Puppentheater draus. Und seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist hier eine Zentrale für freiwillige Helferinnen und Helfer.
Hilfe aus dem Puppentheater
Im Entrée des Puppentheaters, in dem in friedlichen Zeiten das Publikum seine Mäntel an der Garderobe abgab, ist nun alles vollgestellt mit Kisten: Teigwaren, Reis, Bohnen in Büchsen, eingelegte Tomaten. «Das ist unser Lebensmittel-Verteilzentrum», sagt Natalija Denisova.
Sie ist die künstlerische Leiterin des Theaters, die sich jetzt allerdings keine Puppenspektakel ausdenkt, sondern Hilfe leistet. Für Zivilistinnen, aber auch für Soldaten seien die Nahrungsmittel aus dem Foyer gedacht, sagt Denisova.
Inzwischen steht Denisova in einem fensterlosen Raum, in dem sich Bett an Bett reiht. «In unserem Gebäude war früher eine Bank. Das hier war der grosse begehbare Safe. Er ist mit Metallplatten ausgekleidet», erzählt Denisova und zeigt an die Decke. Bis heute schlafen rund zwei Dutzend Aktivisten hier: Wo sonst könnte man sicherer sein vor russischen Raketen als in einem ehemaligen Banksafe?
Wichtiger Einsatz der Freiwilligen
Freiwillige wie Denisova und ihr Team aus dem Puppentheater spielen bei der Verteidigung der Ukraine eine wichtige Rolle. Sie springen überall da ein, wo der Staat versagt. Sie evakuieren Hilfsbedürftige aus Frontgebieten, verteilen Nahrungsmittel und unterstützen die Armee.
«Wir kümmern uns um diejenigen Leute, die unsere Hilfe am meisten brauchen – und das sind im Moment, es mag erstaunen, die Soldaten. Denn es ist kalt, die Jungs sind Tag und Nacht draussen, viele leiden an Erfrierungen. Wir nähen deswegen isolierende Überkleider oder stricken Wollsocken.» Auch einen wärmenden Tee aus Zitrone, Ingwer und Honig brauen die Aktivistinnen in der Theaterküche und schicken ihn an die Front.
Wir kümmern uns um diejenigen, die am meisten unsere Hilfe brauchen – die Soldaten.
Wobei auch viele Zivilisten nach wie vor Hilfe brauchen. «Gestern zum Beispiel kam eine Frau, die ganz furchtbar geweint hat. Sie wurde ausgebombt, hat alles verloren. Irgendwie war es ihr zwar gelungen, eine Einzimmerwohnung zu mieten. Aber sie hat keinen Hausrat. Da haben wir zusammengesucht, was wir konnten: Decken, Kissen, Wäsche.»
«Ich glaube, im Moment verstehen wir noch gar nicht, wie gross die Katastrophe ist, die dieser Krieg über unser Land gebracht hat. Klar gibt es die sichtbaren Schäden. Aber unter der Oberfläche verstecken sich viele weitere Verletzungen», sagt Denisova.
Sie spricht die vielen traumatisierten, psychisch angeschlagenen Menschen an. Die Gewaltopfer, die keine Ruhe finden. Die Soldaten, die Furchtbares erlebt haben. Im Moment ist in der ukrainischen Öffentlichkeit kein Platz, um über diese Dinge zu sprechen. Es ist Krieg. Alle reden vom Kampf.
Aber die Helferin aus dem Puppentheater vermutet: «Wir Ukrainer werden sehr lange brauchen, um aus diesem Leid herauszukriechen. Und uns Freiwillige wird es lange brauchen, unsere Schultern zum Anlehnen. Wir werden viel heilen müssen.» Denisova und ihre Mitstreiter wollen deswegen vorerst im Theater wohnen bleiben. Es gebe zu viel zu tun, um nach Hause zu gehen, sagt sie.