Der Oberkommandant der Nato, US-General Christopher Cavoli, formuliert es offen: «Russlands Krieg gegen die Ukraine ist eine Art Brunnen der Erkenntnis. Aus ihm lassen sich unablässig Lehren ziehen – positive und unangenehme.» Zu den unangenehmen Erkenntnissen zählt, dass offenkundig die bisherige westliche Hilfe nicht ausreicht, um der Ukraine einen entscheidenden Schlag gegen die russischen Invasoren zu erlauben und die besetzten Gebiete zurückzuerobern.
«Kiews Gegenoffensive ist und bleibt ein äusserst schwieriges, langwieriges und blutiges Unterfangen», sagt Mark Milley, der amerikanische Generalstabschef: «Niemand sollte sich da Illusionen machen. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben.» Zwar begingen die russischen Streitkräfte vor allem zu Beginn des Krieges gewaltige und unerwartete Fehler, gaben sich teils gar der Lächerlichkeit preis. Das ändere jedoch, so Mark Milley, nichts daran, dass die Ukraine es mit einem übermächtigen Gegner zu tun habe.
Niemand sollte sich da Illusionen machen. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben.
Die Staaten der Nato helfen zwar und «das wirkt sich graduell immer stärker aus», sagt Generalsekretär Jens Stoltenberg. Doch möglicherweise zu spät. Stoltenberg stellt nämlich auch fest: «Die ukrainische Armee stösst auf erbitterten russischen Widerstand, rennt an gegen umfangreiche Verteidigungsanlagen.»
Kurzfristig das wohl grösste Problem ist der akute Mangel an Munition. Die ukrainischen Vorräte gehen zur Neige. Der Westen kann kaum noch Nachschub liefern. Die Munitionsproduktion werde, beklagt die estnische Regierungschefin Kaja Kallas, viel zu langsam hochgefahren. «Weil man sonst nichts mehr anzubieten hat, müssen die USA der Ukraine nun Streubomben liefern.» Das wiederum ist heftig umstritten, denn diese Waffengattung ist geächtet und durch ein internationales Abkommen verboten.
Fehlt der politische Wille?
Hinter all dem verbirgt sich die Frage: Könnten die westlichen Länder die Ukraine nicht noch entschiedener mit Waffen unterstützen? Oder fehlt es primär am politischen Willen? Soll also Russland gar nicht besiegt werden, weil der Totalzusammenbruch der Grossmacht unabsehbare Folgen hätte?
Petr Pavel, seit kurzem Präsident Tschechiens und zuvor dessen Generalstabschef und ein hoher Nato-General, zeichnet ein düsteres Bild: «Der Ukraine fehlt es an Luftstreitkräften, an Munition, an Minenräumkapazitäten. Wohingegen Russland monatelang Zeit hatte, über Hunderte von Kilometern eine, zwei oder gar drei starke Verteidigungslinien aufzubauen.» Der Westen müsse sich fragen: Hat man der Ukraine genügend geholfen?
Pavel sieht sogar den Willen schwinden, der Ukraine langfristig in sehr grossem Umfang militärisch beizustehen. Weshalb er damit rechnet: Kann die Ukraine nicht bis spätestens zum Winterbeginn bedeutende Territorien befreien, dann beginnen Friedensgespräche – mit einer Ausgangslage, bei der das Land rund zwanzig Prozent seines Hoheitsgebietes bereits verloren hat. Also mit schlechten Voraussetzungen aus ukrainischer Sicht.