Am Nato-Gipfel im litauischen Vilnius geht es ab Dienstag um eine mögliche Aufnahme der Ukraine in das Verteidigungsbündnis. Die USA haben bereits kommuniziert, dass sie eine Nato-Mitgliedschaft erst nach Kriegsende für möglich halten. US-Präsident Joe Biden erwägt für die Ukraine jedoch ein Schutzmandat, ähnlich wie es die USA seit Jahrzehnten Israel gewähren.
Eine solche Sicherheitsgarantie könne nach Kriegsende bis zu einem Nato-Beitritt bestehen bleiben, sagte Biden am Sonntag gegenüber dem US-Nachrichtensender CNN. Er betonte, dass dies nur im Fall eines Waffenstillstands und eines Friedensabkommens denkbar wäre.
Claudia Major ist Expertin für Internationale Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Grundsätzlich begrüsst sie, dass die USA der Ukraine ein konkretes Angebot machen wollen. «Im Prinzip ist Bidens Idee gut. Für mich gibt aber grosse Fragezeichen.»
Skepsis gegenüber baldigem Nato-Beitritt
Das «Israel-Modell» umfasst auch die Bereitstellung von Atomwaffen. Soll dies auch für Ukraine gelten? «Ich glaube nicht, dass dies für die Ukraine erstrebenswert wäre», sagt Major. Würde darauf verzichtet, sei ein amerikanisches Schutzmandat aber ein gangbarer Weg – als Überbrückungslösung.
Bei dem Gipfel in Vilnius geht es darum, wie die Ukraine an das westliche Militärbündnis herangeführt werden kann und welche Sicherheitsgarantien ihr nach einem Ende des russischen Angriffskriegs gegeben werden können.
Die grosse Streitfrage in Vilnius ist, was die Nato-Staaten der Ukraine Greifbares anbieten können – ohne dass sie selbst in den Krieg hineingezogen werden.
Die Ukraine wünscht eine formelle Einladung in die Nato. Dazu wird es aber voraussichtlich nicht kommen. Biden und etliche andere Nato-Partner halten das Land noch nicht für einen Beitritt bereit – auch wegen des andauernden Krieges. Denn: Ein Nato-Beitritt der Ukraine während des Krieges würde den Bündnisfall auslösen. Die westliche Militärallianz befände sich ebenfalls im Krieg mit Russland.
Russlands «Vetorecht» heisst Krieg
Diese Bedenken kann auch die deutsche Sicherheitsexpertin nachvollziehen. Aber: Die brisante Frage weiter aufzuschieben, hält Major für «schwierig». Denn es könnte einen Anreiz für Russland schaffen, den Krieg in die Länge zu ziehen – ein faktisches Vetorecht auf dem Schlachtfeld. «Damit würde ein Nato-Beitritt und ein wahrhaftiger Schutz der Ukraine in weite Ferne rücken.»
Für Major muss nun geklärt werden, wie die praktischen Schritte hin zu einem Nato-Beitritt der Ukraine aussehen und wie ihre Sicherheit bis dahin gewährleistet kann. Darin würde die Politikwissenschaftlerin auch ein wichtiges Signal sehen: «Russland darf nicht die Lehre ziehen, dass es mit Krieg seine Ziele erreichen kann.»
Die Nato im Dilemma
Major erinnert daran, dass der Ukraine bereits 2008 ein Nato-Beitritt in Aussicht gestellt wurde. «Es wurde aber nicht ausbuchstabiert, bis wann das passieren soll. Damit blieb die Ukraine in einer Grauzone und de facto vogelfrei.»
Die Folge seien der russische Angriff von 2014 und schliesslich die grossangelegte Invasion von letztem Jahr gewesen. Major schliesst: «Die grosse Streitfrage ist, was die Nato-Staaten der Ukraine Greifbares anbieten können – ohne dass sie selbst in den Krieg hineingezogen werden.» Dieses Dilemma gilt es beim Gipfel in Litauen aufzulösen.