Der mutmassliche Drohnenangriff auf den russischen Tanker in der Kertsch-Meerenge ist kein Einzelfall. Solche Angriffe auf russische Schiffe kamen schon mehrfach vor – sie sind Teil der ukrainischen Gegenoffensive. Eine Offensive, die nun schon rund zwei Monate andauert. SRF-Auslandredaktor David Nauer berichtet darüber, wie es um die ukrainische Gegenoffensive steht.
Schreitet die ukrainische Gegenoffensive langsam, doch stetig voran oder eher schleppend?
Mit den Drohnen auf dem Meer waren die Ukrainer in den letzten Tagen erfolgreich – so wie kürzlich in der Strasse von Kertsch. An Land aber verläuft die Offensive eher schleppend.
Die Ukrainer erzielten kleinere Erfolge, aber keinen Durchbruch.
Grob gesagt: In den letzten zwei Monaten haben die Ukrainer zwei grössere Angriffswellen durchgeführt. Jedes Mal erzielten sie zwar kleinere Erfolge, aber keinen Durchbruch. Sie haben einige wenige Dörfer zurückerobert. Insgesamt vielleicht 250 Quadratkilometer. Zum Vergleich: Russland hält weiterhin 100'000 Quadratkilometer besetzt.
Woran liegt es?
Einerseits am starken russischen Widerstand, andererseits an der falschen Taktik der Ukrainer. Die Ukrainer haben versucht, mit westlicher Militärtechnik durch die russischen Linien zu brechen, was nicht funktioniert und zu hohen Verlusten geführt hat.
Wo auch immer die Ukrainer vorstossen, liegen Minen.
Die Ukraine hat zudem versucht, die russischen Schützengräben mit kleinen Fusstrupps zu stürmen. Auch hier blieben die Erfolge aus, denn: Die Russen haben sich sehr gut eingegraben und grosse Minenfelder gelegt. Wo auch immer die Ukrainer vorstossen, liegen Minen, und zwar sehr, sehr viele Minen.
Weshalb bringt die westliche Technik nicht den erhofften Durchbruch?
Der Plan des Westens, vor allem der USA: Die Ukrainer sollten kämpfen wie die Nato. Also ein kombinierter Kampf, wobei Artillerie, Panzer, Infanterie alle zusammen kämpfen. Aber damit sowas funktioniert, braucht es sehr viel Absprache. Die Ukrainer haben einem Bericht der «New York Times» zufolge Fehler gemacht. Zum Beispiel zu spät angegriffen oder zu lange gewartet. Dies ist wohl auch die Folge einer zu kurzen Ausbildung der ukrainischen Soldaten im Westen.
Ein grosses Problem der Ukraine ist die fehlende Luftüberlegenheit.
Ein weiteres grosses Problem der Ukraine ist die fehlende Luftüberlegenheit. Würde die Nato kämpfen, könnte sie massiv mit Flugzeugen angreifen. Diese fehlen der Ukraine, daher kann sie auch nicht kämpfen wie die Nato.
Also stecken wir mitten in einem Abnutzungskrieg?
Ja, es ist ein Abnutzungskrieg. Und das ist offenbar auch die neue ukrainische Strategie. Die russische Armee soll mit Raketen und Artillerie dezimiert und aufgerieben werden, damit man dann doch irgendwo durchbrechen kann. Zudem werden systematisch Nachschubwege der Russen angegriffen, zum Beispiel die Krim-Brücke, aber auch Eisenbahnlinien, Strassen, Munitionslager, Kommandoposten. Der Effekt dieser Taktik ist unklar. Es gibt unterschiedliche Meldungen über den Zustand der russischen Truppen in der Region. Man weiss nicht, wie es wirklich ist.
Wie lange soll die Gegenoffensive noch dauern?
Laut Experten dauert die Gegenoffensive sicher noch bis in den Herbst. Es ist immer noch möglich, dass die Ukraine einen grossen Erfolg erzielt, aber nicht wahrscheinlich. Die Frage ist, wie es dann weitergeht. Die Russen haben momentan, soweit man weiss, keine grossen Angriffsverbände. Der Kreml könnte jedoch eine weitere grosse Mobilmachung anordnen und nochmals Hunderttausende Soldaten in die Schlacht schicken.
Es gibt keine Anzeichen für ein baldiges Ende des Krieges.
Die Ukraine wird früher oder später erneut massive westliche Militärhilfe brauchen – vor allem Artilleriemunition. Derzeit gibt es keine Anzeichen für ein baldiges Ende des Krieges, aber es wäre denkbar, dass er im Winter mit geringerer Intensität weitergeführt wird, weil beide Armeen erschöpft sind.