Seit Monaten ist in der Ukraine eine Frühlingsoffensive angekündigt, mit der Kiew den russischen Aggressor zurückschlagen will. Doch nun liess Präsident Wolodomir Selenski verlauten, sein Land sei noch nicht bereit dafür.
Die Begründung: Der Ukraine fehle es an genügend Waffen und gepanzerten Fahrzeugen, um einen grossangelegten Gegenschlag zu starten. «Wir können zwar erfolgreich sein», sagte Selenski gegenüber der BBC. «Aber wir würden viele Leute verlieren. Das wäre inakzeptabel.»
David Nauer war erst kürzlich an der Front in der Ostukraine. Von einer Verschiebung der Frühjahrsoffensive will der Auslandredaktor von SRF nicht sprechen. «Ich sehe es eher so, dass Selenski insgesamt die Erwartungen auf baldige Erfolge dämpft.»
Die Erwartungen an unsere Gegenoffensive in der Welt sind überhöht.
Ähnlich äusserten sich zuletzt andere ukrainische Offizielle. So sagte etwa Verteidigungsminister Olexij Resnikow Anfang Mai: «Die Erwartungen an unsere Gegenoffensive in der Welt sind überhöht», sagte er in einem Interview. Wer etwas «Gewaltiges» erwarte, laufe Gefahr, enttäuscht zu werden.
Damit zielte Resnikow offenkundig auf Erwartungen ab, wonach die Ukraine in kürzester Zeit grosse Gebiete befreien könnte. Spekuliert wird etwa über einen Vorstoss im Süden, um die russischen Besatzer zu vertreiben und ihre Landverbindung zur besetzten Krim zu kappen.
Kiews Kriegspsychologie
Zuletzt gab es aber auch Berichte über Fortschritte der ukrainischen Armee, so etwa in Bachmut in der Ostukraine, wo seit Monaten heftige Kämpfe toben.
Gleichwohl kommuniziert Kiew in diesen Tagen betont defensiv. «Wir haben es mit einer Art Erwartungsmanagement zu tun», sagt Nauer. «Es geht den Ukrainern darum, im Westen und im Land selber nicht zu hohe Erwartungen zu schüren, damit die Politik und die Bevölkerung am Ende nicht enttäuscht sind.»
In der Vergangenheit waren ukrainische Offizielle nicht um martialische Töne verlegen. Das Verteidigungsministerium drohte Russland jüngst auf den sozialen Medien mit einer vernichtenden Gegenoffensive.
Anlässlich des russischen «Tags des Sieges» über Nazideutschland vom 9. Mai schickte es einen höhnischen Tribut an den «einsamsten Panzer der Welt», der über den Roten Platz in Moskau rollte:
Die leisen Töne haben für Nauer auch mit Psychologie zu tun: «Wenn die ukrainische Armee grössere Erfolge erzielt als erwartet, steigert das die Kampfmoral in der Ukraine – und es gibt eine höhere Bereitschaft für Waffenlieferungen durch den Westen.»
Blosse Kriegsrhetorik sind die zurückhaltenden Worte jedoch nicht. Tatsächlich ist die Ukraine weiter auf westliche Waffenlieferungen angewiesen. Dazu gibt Nauer zu bedenken, dass die Frühlingsoffensive zwar durchaus Erfolge zeitigen kann – danach könnte das Pendel aber wieder in die andere Richtung schlagen. «Und auch dann werden die Ukrainer Waffen brauchen.»
Vieles von dem, was wir hören, ist Teil psychologischer Kriegsführung und nicht unbedingt an die Realität angebunden.
Generell gilt für Nauer: Bei der Interpretation von Verlautbarungen aus Moskau wie auch aus Kiew ist Vorsicht geboten. «Vieles von dem, was wir hören, ist Teil psychologischer Kriegsführung und nicht unbedingt an die Realität angebunden.»
Und: Die Vorstellung, dass die ukrainische Frühlingsoffensive wie eine Naturgewalt über die russischen Besatzer hereinbricht, könnte verfehlt sein. «Eine solche Offensive kann verschiedene Formen haben», schliesst Nauer. So könnte sie etwa auch mit kleineren Vorstössen statt eines massierten Frontalangriffes eingeleitet werden.