Seit rund zwei Wochen läuft die lang erwartete Offensive der ukrainischen Armee zur Rückeroberung der von den Russen besetzten Gebiete im Osten und Süden der Ukraine. Auch wenn nur wenig Genaues bekannt ist und viele Propaganda- und Falschmeldungen verbreitet werden, ist klar: Die Kämpfe sind heftig und blutig. Und bislang verlaufen sie für die Ukraine eher zäh, wie SRF-Ukrainespezialist David Nauer sagt.
SRF News: Wieso hat die Ukraine bisher bloss sehr kleine Gebiete erobert?
David Nauer: Der Hauptgrund ist wohl, dass die Russen sich in dem Gebiet an der Front sehr gut eingegraben haben. Da gibt es riesige Systeme aus Schützengräben, Minenfeldern, Panzersperren. Eine solche Verteidigungslinie zu durchbrechen, ist sehr schwierig, sagen Experten. Zumal die Russen offenbar besser und geschickter kämpfen als erwartet.
Klar scheint, dass die Kämpfe noch Wochen, wenn nicht Monate dauern werden.
Welche Rolle spielen die Waffen aus dem Westen?
Sie spielen eine sehr wichtige Rolle. Dort, wo die Ukrainer vorrücken konnten, gelang das wegen westlicher Artillerie und westlicher Panzer. Man muss sehen: Die Offensive der Ukrainer hat erst begonnen. Sie beschiessen zurzeit mit westlichen Raketen sehr gezielt russische Versorgungslinien, etwa Brücken, Güterbahnhöfe, aber auch Lagerhäuser. Es kann sein, dass sich die Dynamik dieser Offensive noch ändert, wenn die Russen ernsthafte Probleme mit dem Nachschub bekommen. Klar scheint, dass die Kämpfe noch Wochen, wenn nicht Monate dauern werden.
Sie waren kürzlich an der Front in der Ukraine – wie erleben Sie den Krieg jetzt?
Ich war in den vordersten ukrainischen Schützengräben, genau dort, wo jetzt die heftigsten Kämpfe toben. Das heisst, ich habe Bilder im Kopf, ich weiss, wie das aussieht, wenn ukrainische Soldaten nun aus diesen Gräben müssen, um vorwärtszustürmen durch die Minenfelder – und dann kommt aus der nächsten Baumreihe russisches Maschinengewehrfeuer, dann kommt Artilleriefeuer. Ich habe an der Front auch mit Soldaten gesprochen. Der Krieg hat also für mich ein Gesicht. Es sind reale Menschen, die da kämpfen und sterben. Wir haben es nicht mit einem Strategiespiel zu tun, sondern mit einer todbringenden Realität. Das sollten wir bei allen strategischen Überlegungen nicht vergessen.
Was zeigen die sozialen Medien vom Krieg?
Da gibt es furchtbare Aufnahmen. Ein Video hat mich besonders erschüttert: Man sieht aus der Optik eines ukrainischen Soldaten, wie er einen russischen Schützengraben stürmt. Da tauchen vor ihm russische Soldaten auf, die er auf kürzeste Distanz erschiesst – weil er natürlich weiss, dass sie sonst ihn erschiessen. Es geht in diesen Schützengräben also Mann gegen Mann um Leben und Tod – wie im Ersten oder Zweiten Weltkrieg.
Was machen solche Videos mit den Menschen, die sie schauen?
Das kann man sicher nicht allgemein sagen. Aber ich denke, es gibt zwei Dinge, die für viele Menschen zutreffen: Erstens gewöhnt man sich schlicht an solche Bilder, an Bilder von Toten, auch an Bilder vom Töten. Und zweitens stelle ich fest, dass es sowohl in der Ukraine als auch in Russland eine Verrohung der Diskussion gibt, vor allem in sozialen Medien.
Tote gegnerische Soldaten sind keine Menschen mehr, sondern ‹Schweinehunde›, ‹Nazis› oder fürchterliche Monster, sogenannte Orks.
Da wird also zum Teil über tote gegnerische Soldaten gejubelt oder man entmenschlicht die Gegner. Diese sind dann keine Menschen mehr, sondern «Schweinehunde», «Nazis» oder fürchterliche Monster, sogenannte Orks. Es ist sehr viel Hass zwischen Ukrainern und Russen. Und ich denke, dieser russische Angriffskrieg wird das Verhältnis zwischen den beiden Völkern über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte vergiften.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.