Der Bruch des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine hat immenses menschliches Leid verursacht und ein riesiges Ökosystem zerstört. Recherchen der «New York Times» zeigen nun, dass Russland den Damm mit grosser Wahrscheinlichkeit absichtlich zerstört hat. Das sei aufgrund der gesamten Umstände plausibel, erklärt SRF-Auslandkorrespondent David Nauer.
SRF News: Wie ist es gemäss den Recherchen der «New York Times» zum Dammbruch gekommen?
Gemäss den Recherchen ist die wahrscheinlichste Ursache für die Zerstörung, dass eine Sprengladung im Innern des Dammes angebracht wurde. Und zwar in einem kleinen Tunnel des Fundaments. Dieser Tunnel ist quasi die Achillesferse des Damms. Eine dortige Explosion könnte gemäss Experten den Damm brechen lassen. Zu diesem Tunnel hatten nur die Russen Zugang.
Die «New York Times» beruft sich auf Ingenieure und Sprengstoffexperten, die nicht vor Ort untersuchen konnten. Wie plausibel sind deren Aussagen?
Die Aussagen scheinen mir plausibel zu sein. Sie passen auch zu ukrainischen Expertenstimmen gleich nach der nächtlichen Zerstörung des Damms. Zudem haben Messstationen in der Ukraine und in Rumänien leichte Erschütterungen festgestellt, die zu einer Explosion passen könnten. Auch soll ein US-Spionagesatellit mittels spezieller Sensoren eine Explosion geortet haben.
Es ist wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich, dass die Russen den Damm gesprengt haben. Aber hundertprozentig sicher ist es nicht.
Alles zusammengenommen kann man sagen: Es ist wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich, dass die Russen den Damm gesprengt haben. Aber hundertprozentig sicher ist es nicht. Dafür müssten Experten vor Ort untersuchen können.
Schliessen die Fachleute also aus, dass der Damm schlecht konstruiert respektive schlecht gewartet wurde?
Das wird nicht komplett ausgeschlossen, aber als sehr unwahrscheinlich beurteilt. Der Damm wurde von den Sowjets im Kalten Krieg gebaut und sollte allen Angriffen standhalten. Das massive Fundament aus 40 mal 20 Metern Beton ist nun in Teilen weg. Klar ist es theoretisch möglich, dass eine schlechte Wartung Strömungen und Unterspülungen begünstigt haben könnte, was zu einem Dammbruch hätte führen können.
Könnten nach dem Kachowka-Damm noch weitere Infrastrukturbauten als Waffe eingesetzt werden?
Denkbar ist das. Die Ukrainer warnen davor. In Kiew ist davon die Rede, die Russen hätten im besetzten Gebiet auch das Atomkraftwerk Saporischja vermint, ebenso eine riesige Chemiefabrik auf der besetzten Krim-Halbinsel. Sollten bei diesen beiden Objekten Bomben hochgehen, wäre das fatal und wahrscheinlich noch deutlich schlimmer als der geborstene Damm. Allerdings weiss man nicht, ob die ukrainischen Aussagen über die Verminungen stimmen.
Solche Warnungen aus der Ukraine sollten ernst genommen werden.
Präsident Wolodimir Selenski hatte bereits im letzten Herbst davor gewarnt, die Russen würden den Kachowka-Staudamm verminen. Ein paar Monate später war der Damm zerstört. Daraus schliesse ich, dass solche Warnungen aus der Ukraine ernst genommen werden sollten.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.