Nahe der Front in der Südukraine ist der zweitgrösste Staudamm des Landes schwer beschädigt worden. Beide Kriegsparteien beschuldigen einander, den Damm gesprengt zu haben. SRF-Auslandredaktor David Nauer reist regelmässig in die Ukraine. Er schätzt ein, wie plausibel die Darstellungen der Kriegsparteien sind – und welche Vorteile ihnen die Sprengung des Staudamms auf dem Schlachtfeld bringen könnte.
Welchen militärischen Nutzen hätten die Ukrainer?
Angenommen, die Ukrainer haben den Staudamm in die Luft gesprengt: Ihr Ziel könnte gewesen sein, die Russen unter Druck zu setzen. Denn es werden vor allem Gebiete überschwemmt, die unter russischer Kontrolle sind. Dort sind mutmasslich auch russische Stellungen. Die Russen müssten nun hastig ihre Truppen umgruppieren, um dem Wasser auszuweichen. Dazu kommt: Von diesem Stausee geht ein Kanal ab, der Wasser in die russisch besetzte Krim bringt. Diesen Kanal zu kontrollieren, ist das einzige Kriegsziel, das die Russen bislang wirklich erreicht haben. Nun könnte dieser Kanal austrocknen – und den Russen bleibt nicht einmal mehr dieser Erfolg.
Welches Motiv für eine Sprengung könnten die Russen haben?
Der Dnipro überschwemmt nun vor allem grossflächig Gebiete entlang der südlichen Seite des Ufers und verschlammt diese. Es wird vermutet, dass die Ukrainer im Rahmen ihrer Gegenoffensive mit einer grossen Streitmacht versuchen könnten, über diesen Fluss überzusetzen. Das wird jetzt schwieriger. Wenn ein Gebiet zu einer Sumpflandschaft geworden ist, kann man nicht mehr einfach mit Panzern durchfahren. Wenn also die Russen für die Schäden am Damm verantwortlich waren, setzen sie das Wasser als Verteidigungswall ein.
Welche Darstellung ist plausibler?
Viele Beobachterinnen und Beobachter gehen davon aus, dass es die Russen waren, weil sie die triftigeren Gründe dafür haben. Meiner Meinung lässt sich das aber nicht klar sagen. Wir wissen schlichtweg nicht, wem die Beschädigung des Staudamms mehr nützt. Die Stelle, an der der Stamm geborsten ist, wird allerdings – soweit man das weiss – von den Russen kontrolliert. Das macht sie natürlich verdächtig.
Wie ist die derzeitige Lage an der Front?
Unabhängig davon, wer verantwortlich für den Schaden am Staudamm ist, kann man feststellen, dass die Front in Bewegung gerät. Nach Monaten des Stillstands versuchen nun vor allem die Ukrainer, an verschiedenen Orten anzugreifen. Der grosse ukrainische Schlag, der erwartet wird, ist noch nicht erfolgt. Aber alle sind nervös. Die Ukrainer, weil für sie sehr viel von dieser Offensive abhängt. Aber auch die Russen sind nervös, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt.