Ende März fährt in Kiew ein grauer Minibus vor, Kinder und Jugendliche steigen aus, werden von Angehörigen in die Arme geschlossen. Es ist eine der bisher sieben Gruppen von verschleppten Kindern und Jugendlichen, die mithilfe der NGO «Save Ukraine» in die Ukraine zurückgebracht werden konnten.
Maxim stammt aus der südukrainischen Stadt Cherson, die monatelang von russischen Truppen besetzt war. Er erzählt einer ukrainischen Journalistin, was mit ihm geschah: «Die Lehrer haben uns gesagt, wir würden zwei Wochen in ein Lager fahren. Schlussendlich sassen wir ein halbes Jahr fest.» Zuletzt befand er sich in einer Einrichtung auf der russisch besetzten Krim. Er wollte nach Hause – aber man sagte ihm, das gehe nicht, Cherson werde beschossen. Schliesslich gelang es seiner Mutter, ihn mithilfe von «Save Ukraine» in die Heimat zurückzuholen.
Maxim ist eines von unzähligen Kindern und Jugendlichen, die nach Russland gebracht und dort festgehalten wurden oder immer noch werden. Sie stammen aus umkämpften und – zeitweise – russisch besetzten Gebieten: Cherson, Charkiw oder Mariupol. Ihre Eltern und Angehörige, sofern diese noch leben, wurden mit der Aussicht gelockt, die Kinder könnten gratis in ein Sommerlager, um sich vom Krieg zu erholen, gut und genügend zu essen und dann zurückzukehren. Andere Eltern wurden schlicht unter Druck gesetzt, zuzustimmen.
Sohn wurde anderswohin gebracht
Doch manche Kinder kamen nicht mehr zurück, wie die Rechtsprofessorin und Menschenrechtsexpertin Elina Steinerte sagt. Sie hat für die OSZE einen Bericht über die Verschleppung ukrainischer Kinder mitverfasst. «Als die Eltern Alarm schlugen und die Kinder zurückwollten, hiess es: ‹Kommt her und holt sie!› Das ist aber für diese Familien schwierig bis unmöglich. Denn der Weg nach Russland oder auf die Krim ist aufwendig und teuer, man muss grosse Umwege fahren. Und die Mütter haben nur eine Chance, ihre Kinder zurückzuerhalten, wenn sie die von den russischen Behörden verlangten Dokumente vorweisen.
Und auch dann errichteten die Russen immer wieder neue Hürden, sagt die Sprecherin von «Save Ukraine», Olga Yerokhina. So heisse es etwa, die Papiere seien nicht vollständig. Eine Mutter habe berichtet, ihr Sohn sei woanders hingebracht worden, ohne dass sie darüber informiert worden sei. «Die Russen helfen den Eltern nie, die Kinder zu finden. Und sie sagen den Kindern sogar: ‹Deine Eltern und Dein Land – sie brauchen Dich nicht.›»
Völkerrecht für Kinder
Das ist der entscheidende Punkt: Das Völkerrecht verlangt zwar, dass Kinder aus Zonen unmittelbarer Gefahr gebracht werden müssen. Doch dann muss sofort nach den nächsten Verwandten des Kindes gesucht werden, wie Expertin Steinerte betont, denn das sei im höchsten Interesse des Kindes: «Stattdessen werden Kinder nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete gebracht. Und es gibt keine Anstrengungen, sie mit ihrer Familie zu vereinen.»
Ausserdem würden die Kinder in eine ausschliesslich russisch geprägte Umgebung versetzt und erhielten eine patriotische russische Erziehung, manche sogar eine militärische Ausbildung. Das alles verletzt in gravierender Art und Weise das verbriefte Recht der Kinder auf ihre Identität und Kultur und auf das Zusammensein mit ihrer Familie.
Und damit ist auch die Behauptung der russischen «Kinderrechtsbeauftragten» Marija Lvova-Belova entkräftet, Russland rette diese Kinder und schaffe für sie eine bessere Zukunft. Lvova-Belova wird inzwischen vom Internationalen Strafgerichtshof mit einem Haftbefehl gesucht, weist aber weit von sich, irgendein Verbrechen begangen zu haben.
Doch die Vorwürfe sind massiv und gehen sogar in Richtung Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Denn es könnten zwischen mehreren zehntausend und mehreren hunderttausend Kinder und Jugendliche betroffen sein.
Verschleppungen begannen schon 2014
Denn erste Verschleppungen geschahen schon 2014 in der besetzten Ostukraine und auf der Krim und nahmen seit Februar 2022 gewaltige Ausmasse an. Ein Teil der Betroffenen sind Waisen oder Kinder, deren Eltern sich nicht um sie kümmern konnten oder denen das Sorgerecht entzogen wurde. Von vielen dieser Kinder hat sich jede Spur verloren, sie wurden von russischen Familien adoptiert oder in Pflege genommen.
Auch das zeigt der Bericht der OSZE-Expertinnen. Mit der Behauptung, man helfe kriegsgeschädigten Kindern, wurden diese ihrer Identität beraubt und russifiziert. Erleichtert wurden die Adoptionen und Platzierungen durch den Umstand, dass Russland in den besetzten ukrainischen Gebieten Pseudo-Referenden abhielt und nun behauptet, diese Regionen gehörten zu Russland.
Nach Überschwemmung auf die Krim gebracht
Und so sind die wenigen Erfolgsmeldungen von Kindern, die zurückgeholt wurden, nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die Verschleppung von Kindern geht derweil weiter: Neuste Meldungen weisen darauf hin, dass ukrainische Kinder aus den überfluteten Gebieten in der Südukraine in Lager auf die russisch besetzte Krim gebracht wurden. So wie viele vor ihnen auch.