In den letzten fünf Jahren gab es im Leben von Christoph Flügge vor allem ein Thema: Die Rolle von Ratko Mladic während den Balkankriegen. Wo hielt sich der ehemalige General der bosnischen Serben zu welchem Zeitpunkt auf? Wem gab er welche Befehle? Wann traf er welche Entscheidung?
Nicht nur an den 530 Prozesstagen, sondern konstant, jeden Tag, sei er damit beschäftigt gewesen, erzählt der 70-jährige deutsche Richter in seinem Büro im Tribunal in Den Haag. «Man liest, man verhandelt, man schreibt, man beredet.»
«Ich mache nur meine Arbeit»
Über die Tragweite dieses wichtigsten am Jugoslawien-Tribunal geführten Prozesses habe er aber während des laufenden Verfahrens nicht weiter nachgedacht.
Erst durch die weltweiten Reaktionen nach der Urteilsverkündung sei ihm bewusst geworden, wie stark seine Tätigkeit öffentlich wahrgenommen wurde. «Man fühlt sich nicht bedeutend, wenn man an diesem Fall arbeitet, überhaupt nicht. Man macht seine Arbeit.»
Verbrechen an Frauen schwer bestraft
Wie diese Beschäftigung aussah, illustriert in seinem Büro nicht nur sein Computer, der ihm dank einem ausgeklügelten internen Suchsystem, jedes erdenkliche Prozessdetail auf den Schirm rufen kann, sondern auch ein hoher Schrank, der von oben bis unten mit dicken schwarzen Ordnern gefüllt ist.
Darin hat Flügge alle 591 Zeugenaussagen aus dem Mladic-Prozess mitsamt seinen persönlichen Notizen fein säuberlich abgeheftet. Sie bildeten die Grundlage für die Urteilsfindung.
Früher nicht geahndet
Unter den Menschen, die ihre Geschichte im Gerichtssaal erzählten, gab es viele Frauen, die von Mladics Soldaten vergewaltigt, versklavt und malträtiert worden waren.
Solche Verbrechen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg an den Kriegsverbrecher-Prozessen in Nürnberg und Tokio nicht geahndet, weil damals die Meinung vorherrschte, so etwas gehöre halt zum Krieg. Mit dieser Sichtweise haben die Tribunal-Richter endgültig aufgeräumt.
Sie interpretierten Gewalt an Frauen als eine eindeutige Kriegsstrategie und bestraften die Vergehen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit schwer. «Ich finde es ausgezeichnet, dass diese Rechtsprechung entwickelt worden ist», sagt der deutsche Richter.
Einmaliges Zeitfenster
Nach den neun Jahren in Den Haag ist Flügge des Lobes voll. Gemessen an dem, was ein Strafgericht erreichen könne, habe das Tribunal unendlich viel erreicht, was sensationell sei. Nicht nur sässen die Drahtzieher der Kriege im ehemaligen Jugoslawien hinter Schloss und Riegel, es befinde sich auch kein einziger der 161 Angeklagten noch auf der Flucht.
So etwas habe 1993, bei der Aufrichtung des UNO-Gerichts, als der bewaffnete Konflikt auf dem Balkan noch in vollem Gang war, niemand erwartet. «Natürlich war dies mit der Hoffnung verbunden, dass nur schon die Gründung dieses Tribunals zur Beendigung des Krieges beitragen kann», sagt Flügge.
Allerdings könne ein Strafgericht nicht mehr tun als die individuelle strafrechtliche Schuld eines Angeklagten feststellen, schränkt der Richter ein. Für die Beendigung von Gewalt, für Frieden und Versöhnung oder die Bildung einer Zivilgesellschaft seien andere Akteure nötig.
Das Pflänzchen muss sich entwickeln
Es grenzt an ein Wunder, dass es den Migtliedern des UNO-Sicherheitsrates 1993 gelungen ist, diese Resolution zur Schaffung des Tribunals einstimmig anzunehmen.
Flügge nennt es ein historisch einmaliges Zeitfenster, das nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kurz offen gewesen sei: «Ohne diese neue Situation, wo man das Gefühl hatte, jetzt gibt’s keine Feinde mehr, sondern nur noch kooperierende Mächte, wäre das Jugoslawien-Tribunal nie gegründet worden.»
Kein Konsens für Syrien
Für Ruanda, Kambodscha oder den Libanon gibt es inzwischen ähnliche Strafgerichte, die Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder die Verletzung der Genfer Konventionen ahnden.
Aber für ein Syrien-Tribunal gibt es im UNO-Sicherheitsrat bisher keinen Konsens. Trotzdem ist Flügge zuversichtlich, das Völkerstrafrecht sei halt ein noch junges Pflänzchen, das sich entwickeln müsse.
Das Orchester und die Geige
Sein Richterbüro hat Christoph Flügge inzwischen aufgegeben. Jetzt muss er noch seine Wohnung in Den Haag räumen. Dann steht dem Umzug nach Berlin nichts mehr im Wege.
Er freut sich, nach neun Jahren nach Hause zurückzukehren und endlich wieder genügend Zeit für seine Geige zu haben und zu wissen: «Das Orchester wartet auf mich.»
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 05.01.18, 09.02 Uhr