SRF News: Wie wird das lebenslängliche Urteil gegen Mladic in Bosnien und Serbien ankommen?
Walter Müller: Die lebenslängliche Haft für Mladic entspricht den Erwartungen im muslimischen und katholischen Teil Bosnien-Herzegowinas. Für die Muslime und die bosnischen Kroaten ist Mladic die Symbolfigur für das Morden, die Kriegsverbrechen und das Leiden vor mehr als 20 Jahren. Ganz anders ist das im serbischen Teil Bosniens: Dort ist Mladic immer noch ein Held und der Völkermord wird verleugnet. Ein grosser Teil der dortigen Bevölkerung empfindet das Urteil als ungerecht und das Haager Tribunal als antiserbisch.
Das Haager Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien beendet seine Tätigkeit Ende Jahr. Wie werden die Urteile dieses Gerichts in der Region generell aufgenommen?
Sie werden immer widersprüchlich aufgenommen: Wenn ein Serbe verurteilt wird, finden das die Serben ungerecht und die Kroaten gerecht. Das Gegenteil ist es im umgekehrten Fall. Schuld sind also immer die anderen. Die Täter oder die Täterstaaten haben das Haager Tribunal nie als Gericht akzeptiert. Sie haben immer nur unter grossem internationalen Druck gehandelt, wenn es etwa darum ging, Angeklagte ans Gericht auszuliefern.
Die Serben beklagen, dass ihre Anführer meist verurteilt, die kroatischen und bosnischen Anführer aber freigesprochen worden seien. Das Haager Gericht habe politisch und nicht juristisch geurteilt. Was ist davon zu halten?
Das Tribunal hat insgesamt 161 Personen angeklagt, von denen 83 verurteilt wurden. 60 von diesen waren Serben. Allerdings gibt es keine Beweise, die den Vorwurf stützen, das Gericht habe politisch geurteilt. Extrem störend ist es allerdings, dass etwa Kosovo-Albaner mangels Beweisen und mangels aussagebereiten Zeugen häufig freigesprochen werden müssen. Das lässt sich aber schlicht nicht ausmerzen.
Das Gericht kann keine Versönhung schaffen. Das können nur Täter und Opfer.
Warum ist es nicht gelungen, dass das Haager Tribunal zu einer Versöhnung im Balkan hat beitragen können?
Das Tribunal kann selber keine Versöhnung schaffen. Es sammelt Fakten und Beweise, und fällt Urteile. Versöhnen können sich nur Nationen und Zivilgesellschaften oder Täter und Opfer. Doch diese Versöhnung ist nicht angegangen worden. Die Politiker aller betroffenen Staaten Ex-Jugoslawiens benützen weiterhin die alten Geschichten und das Leiden der 1990er-Jahre oder sogar jene des Zweiten Weltkriegs zum eigenen Zweck. So versuchen sie, sich gegenüber den anderen Staaten besser darzustellen.
Wie sinnvoll war es, die Prozesse nach Den Haag zu verlagern – anstatt sie dort abzuhalten, wo der Krieg geführt worden war?
Die Niederlande werden auf dem Balkan tatsächlich als sehr in der Ferne und entsprechend die Urteile als «von dort oben» wahrgenommen. Allerdings wäre es sehr schwierig gewesen, diese Prozesse in den Staaten des Westbalkans zu führen. Zu wenig unabhängig wäre das Gericht gewesen und zu starken Beeinflussungsversuchen ausgesetzt. Das sieht man auch an den in Bosnien, Kroatien und Serbien inzwischen eingerichteten Sondergerichten zum Balkankrieg. Sie funktionieren nur zum Teil. Es zeigt sich, dass Richter, Staatsanwälte und Zeugen dort unter extremem Druck stehen. Deshalb war es sicher besser, das Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag anzusiedeln.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.