Auf der Südseite des Gotthard im Tessin bin ich in einer anderen Welt. Das liegt weniger an den farbigen Häusern und dem Italienisch, das die Menschen sprechen, als am satten Grün, das mich fast überall umgibt.
Das Tessin ist Wald. An den steilen Hängen stehen die Bäume so dicht, dass er verwildert.
Wenn ich im Alltag eine kurze Auszeit brauche, lasse ich meine Augen diese üppig grünen Berghänge rauf und runter gleiten, und schon wähne ich mich für einen Augenblick auf einem anderen Kontinent: Etwa in Südamerika, in Urwaldumgebung. Aber so weit muss ich gar nicht reisen.
Überall hat es Palmen
«Wir kämpfen uns durch das Unterholz. Wir sind in der Nähe von Solduno, in der Nähe von Siedlungen, aber bereits in einem sehr wilden Waldstück», sagt unser Reiseleiter durch den Tessiner Dschungel Marco Conedera von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Cadenazzo. Nur hundert Meter Luftlinie von der Zivilisation werden die Bäume über uns so dicht, dass es ganz dunkel wird.
«Wir haben Palmen in verschiedenen Höhen, die sich überlappen und eine kompakte grüne Decke bilden, die uns die Sonne und das Licht stehlen», erklärt Conedera. Wir dringen immer tiefer in den Wald ein.
«Es gibt Wildtiere, die sehr gern in diesem Dschungel herummarschieren, etwa Wildschweine oder Hirsche. Sie fühlen sich hier in Deckung», so Conedera.
Wo früher Kastanien standen, stehen heute also Palmen. Im Tessin wachsen auch wilde Kiwis.
Marco Conedera zeigt durch das Dickicht auf die Kiwi-Stauden, die entlang der Palmenstämme wachsen. Den Dschungel perfekt macht aber die höchste Baumschicht, die Kampferbäume, sagt der Waldforscher.
«Es sind neue Arten, die normalerweise im Tessin nicht vorkommen. Wir haben in der oberen Schicht Kampferbäume», erklärt Conedera. Das seien Exoten, die im Garten als Zierbäume eingeführt wurden und jetzt Samen produzieren.
Im Unterholz wachsen Palmen. Sie werden Tessiner Palmen genannt, aber es sind chinesische Palmen, die eingeführt wurden.
Die Neophyten wachsen schnell und sind sehr widerstandsfähig, sagt mein Dschungelführer. Auch die Palmen und Kiwisamen werden von den Vögeln in ihren Schnäbeln aus den nahegelegenen Gärten der Villen hierher in den Wald getragen.
Wald hat eine Schutzfunktion
Die durch den Klimawandel stetig steigende Temperatur bietet für diese Exoten eine angenehme Umgebung. «Diversity» bei den Bäumen ist ja schön und gut. Das Problem ist aber, dass die einheimischen Bäume wie etwa die Kastanie unter der Hitze ächzen und von den unaufhaltsamen Exoten zurückgedrängt werden.
Gemäss Conedera ist unklar, ob diese neuen Pflanzen die wichtigen Leistungen eines Waldes erbringen könnten. «Es fragt sich, ob sie uns schützen. Welche Wurzeln haben sie, um den Boden zu verankern? Wirken sie gegen Steinschlag genauso wie eine Kastanie oder eine Buche?» Vor allem sei unklar, wie diese neuen Wälder zu bewirtschaften seien.
Es ist also noch ein langer Weg, den Waldforscher wie Marco Conedera im Tessiner Wald zu gehen haben. Klar ist jetzt schon: Wer sich physisch auf diesen Dschungelweg begibt, nimmt am besten viel Moskitomittel mit. Denn diese kleinen, lästigen Viecher fühlen sich in diesem feuchten Klima ebenfalls sehr wohl. Wie im richtigen Dschungel.