Schauplatz: Flühli-Sörenberg im Entlebuch. Wir laufen durch einen Wald weit oberhalb des Tals.
Wir: Das sind der Kantonsförster Bruno Röösli, der die Oberaufsicht über die Luzerner Wälder hat, und ich als Waldbesitzerin.
Als Kind war ich nur selten hier. Höchstens, um zusammen mit meinem Vater einen Weihnachtsbaum auszuwählen. Heute bin ich regelmässig auf Kontrollgängen unterwegs, auf Pilzsuche oder einfach, um Luft und Energie zu tanken.
Es ist steil, der Bergbach rauscht entfernt aus dem Tobel. Wir sind von alten Fichten, jungen Tännchen, wenigen Laubbäumen und viel Bodengrün umgeben, auf 1200 Metern über Meer.
Im Chaos liegt das Wertvolle
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Waldreservat kaum von einem gewöhnlichen Wald in der Gegend. Auf den zweiten Blick erkennt man aber, dass an mehreren Stellen umgefallene Bäume kreuz und quer im unwegsamen Gelände liegen, abgestorben oder von Sturmwinden umgefegt.
Für den Laien mag dies ungepflegt aussehen. Aber genau das mache Waldreservate so wertvoll, sagt Kantonsförster Bruno Röösli:«Wie das Sprichwort ‹Totholz lebt› besagt, ist das Holz zwar tot, aber voller Lebewesen, etwa voller Insekten und Pilzen, die das Holz abbauen.»
Im toten Holz könnten sich Nützlinge entwickeln, die dann etwa Borkenkäfer beseitigen und so das Absterben der übrigen Bäume im Wald verhindern, so Röösli.
Der Wald hat seinen eigenen Rhythmus
Vor zwei Jahrzehnten haben Bund und Kantone entschieden, dass zehn Prozent der Schweizer Wälder zu Waldreservaten werden sollen. In diesen Wäldern hat die Biodiversität Vorrang vor den Interessen der Menschen.
Konkret bedeutet dies, dass während mindestens 50 Jahren der Wald sich selber überlassen wird: Es wird weder geholzt noch aufgeforstet.
Da der Wald so auch keinen Ertrag abwirft, werden die Besitzer von Waldreservaten entschädigt. Bund und Kantone fördern so quasi Urwald, damit wieder ein eigener Entwicklungsrhythmus entsteht.
Förster Röösli erklärt: «Wir lassen die Zerfallsphase als Lebensphase zu. Dann, wenn der dichte Waldbestand zusammenbricht, findet der Wechsel in die Pionierphase des jungen Waldes statt. Der hat ein neues Mikroklima und so haben andere Tier- und Pflanzenarten eine Lebenschance.»
Diese beiden Phasen kämen oft zu kurz. Mit Waldreservaten sollen diese Phasen der Natur zurückgegeben werden, so Röösli.
Dreiviertel des Luzerner Waldes gehört Privatpersonen
Als private Waldbesitzerin wäre ich in vielen Kantonen eine Ausnahme – nicht so im Kanton Luzern. Der private Waldbesitz hat hier eine lange Tradition, die bis auf die Französische Revolution und ihre Auswirkungen zurückgeht.
Während es im Mittelland für viele Menschen Arbeit in der Industrie gab, brauchte die ländliche, ärmere Bevölkerung Existenzgrundlagen. Weiden und Wald wurden aufgeteilt. Holz war wertvoll und wichtig zum Bauen und Heizen.
Unser Wald kam vor rund hundert Jahren in unseren Familienbesitz. Mein Urgrossvater kaufte als Einheimischer eine Alpliegenschaft mit viel dazugehörigem Wald, als Investition und Sicherheit.
Wald stillt Sehnsüchte, nicht Geldnöte
Gutes Holz war damals das, was heute eine Lebensversicherung ist. Dieser Wert ist aber längst passé, sagt Kantonsförster Röösli.
Ein Wald rentiere sich nicht: «Der wirtschaftliche Wert ist weggebrochen. Jetzt zählt: Ein unberührtes Stück Natur zu besitzen, Ruhe haben, die Natur riechen, schmecken, hören und erleben. Das sind Werte, die nicht monetär zu entschädigen sind.»
Dank der Reservate, das gilt auch für meines, bleibt der Nachwelt ein Stück fast unberührte Natur erhalten.