SRF: Marion Löhndorf, Sie sind Korrespondentin der «NZZ» in London. Wie reagieren dort die Kulturschaffenden kurz nach dem «Ja» zum Brexit?
Marion Löhndorf: Der Schock sitzt bei vielen Künstlern tief. Man hat in Grossbritannien mit allem gerechnet und wusste, dass das Resultat sehr knapp ausfallen würde. Trotzdem: Nachdem heute feststand, dass es zum Brexit kommt, waren die meisten Künstler viel stärker erschüttert, als sie es sich vorgestellt hatten.
Gab es heute bereits konkrete Äusserungen von britischen Kulturschaffenden zum Brexit?
Ja, die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling meinte, sie hätte sich nie dringender Zauberei gewünscht. Der Schriftsteller Nick Hornby drohte auf seinem Facebook-Account, dass er den ganzen Tag nur wütende und sarkastische Kommentare veröffentlichen würde. Der Theaterregisseur Mark Ravenhill fragte seine Freunde: «Ich bin gerade in der Buchhandlung Foyles. Ist jemand hier, der mit mir einen Kaffee trinkt und weint?» Und der Musikproduzent Tony Visconti schrieb auf Facebook, ebenfalls sehr sarkastisch: «Was wären wir ohne Jingoismus? (Ein pejorativer Ausdruck für Patriotismus, der mit Kriegseuphorie einhergeht, Anm. d. Red.)»
Im Vorfeld haben sich viele Künstler vehement dafür eingesetzt, dass Grossbritannien in der EU bleibt. Hat dieses Engagement im Abstimmungskampf etwas bewegt?
Nein, ich glaube nicht, dass es viel bewirkt hat. Es gab einen offenen Brief der Kulturschaffenden, aber der wurde öffentlich rasch abgetan und bagatellisiert. An dem Brief beteiligt waren grosse Namen: Schriftsteller wie John le Carré, Tom Stoppard und Hilary Mantel, Filmregisseure wie Mike Leigh, Michael Winterbottom und Danny Boyle, oder der Architekt David Chipperfield. Aber ich denke, dass diese Abstimmung von Akteuren bestimmt wurde, denen Kunst und Kultur weder wichtig ist, noch die sich überhaupt mit den Folgen für die Kulturindustrie befassen.
Es wurde immer wieder gewarnt, ein Brexit hätte für die britische Kulturindustrie weitreichende Folgen. Können diese aktuell bereits abgeschätzt werden?
Die Kulturindustrie wird mit europäischen Fördergeldern, aus dem «Creative Europe Programm», subventioniert: Zwischen 2007 und 2015 sollen es umgerechnet rund 130 Millionen Euro gewesen sein. Diese Fördertöpfe werden sich jetzt schliessen. Es geht aber nicht nur um Geld: Theater und Film-Produktionen müssen in Zukunft etwa auch über Zölle, Einwanderungsbestimmungen und Copyrights verhandeln.
Denken Sie, dass die britische Regierung finanziell einspringen wird?
Das kann ich nicht genau sagen. Ich weiss bloss, dass die britische Kulturindustrie eine wichtige Wachstumsbranche ist, die 84,1 Milliarden Pfund zum Haushalt in Grossbritannien beiträgt. Europa ist dabei Englands grösster Absatzmarkt. Hier muss also einiges abgefangen und ausgeglichen werden.
Wenn auch viele Kulturschaffende aktuell düstere Prognosen stellen: Kann aus dem Brexit auch etwas Positives für die Kultur entstehen?
Ich erinnere mich an die Ära von Margaret Thatcher, die als Autoritätsfigur viele Künstler geradezu zum Widerspruch herausforderte. Damals gab es wenig Kulturförderung – und trotzdem prosperierte die Kultur. Der Widerstand verleiht uns Energie und einen Fokus, hiess es damals unter Schriftstellern, Filmemachern und Popmusikern. Die Zeit nach dem Brexit, die für Kunst und Kultur ziemlich schwierig wird, könnte also gerade auch zum Widerstand inspirieren.
Sendung: Kultur Kompakt, 24.06.2016, 17.08 Uhr.