Der Kreml hat einen neuen ideologischen Kurs eingeschlagen. Kämpfer des Ukrainekonflikts formieren sich als Heilsbringer Seite an Seite mit orthodoxen Geistlichen. Staatsphilosophen konstruieren abenteuerliche Ideologiegebäude, Putin begründet geopolitische Machtansprüche mit religiösen Werten. Und Moskau wird als Drittes Rom bezeichnet. Was hat es mit diesen orthodox-nationalistischen Tendenzen in der Staatsideologie auf sich?
Moskau – das Dritte Rom
Die Idee des Dritten Rom geht auf den Pskower Mönch Filofej zurück, der im 16. Jahrhundert seine berühmte These formulierte: «Das erste und das zweite Rom sind gefallen, das dritte steht, ein viertes wird es nicht geben.» Nach dem Niedergang des Römischen und Byzantinischen Reichs beanspruchten die Moskauer Fürsten die Nachfolge Roms für sich. Daraus entwickelte sich die Lehre einer göttlichen Auserwählung des russischen Volkes, was im Laufe der Geschichte immer wieder als Staatstheorie aufgegriffen wurde. Wichtig ist hier etwa das griechische Projekt von Katharina der Grossen, die in ihren Türkenkriegen Byzanz unter russische Kontrolle bringen wollte. Die russische Regierung versteht sich heute noch als Schutzmacht der orthodoxen Christen.
Die russische Symbiose von Kirche und Staat
Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, weist auf die byzantinische Vorstellung der «Symphonia» von Kirche und Staat hin. In Russland war schon seit der Zarenzeit das Staatsoberhaupt immer auch Kirchenoberhaupt.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte die orthodoxe Kirche erfolgreich ein ideologisches Vakuum füllen und gewann in der russischen Bevölkerung wieder erheblich an Bedeutung. Der Mythos vom Dritten Rom vereint die grossräumig verstreuten und multiethnischen Russen unter dem sinnstiftenden Konzept eines herausragenden «Russentums». Die orthodoxe Kirche Russlands wiederum versucht sich als Hüterin des wahren Glaubens Geltung zu verschaffen.
Putins explizite Wertepolitik
Es gehe eine enorme soziale Bindungskraft von der Orthodoxie in Russland aus, meint Ulrich Schmid. Die russischen Bürger haben in diesem Sinne eine doppelte Identität: sowohl eine politische als auch eine religiöse. Diese beiden Seiten verstärken sich gegenseitig und werden von Putin angesprochen, wenn er in seiner kürzlich gehaltenen Rede zur Lage der Nation die Annexion der Krim mit religiösen Argumenten untermauert.
Putin betont explizit, dass die Krim für Russland eine «herausragende zivilisatorische und sakrale Bedeutung» habe. Die Krim bedeute für die Russen dasselbe wie der Tempelberg in Jerusalem für die Juden und die Muslime. «Russland wird als einzigartige Zivilisation dargestellt, die eben gerade nicht eine Spielart der europäischen ist», erklärt Schmid. In Putins Staatsideologie werden zwei zentrale russische Werte geltend gemacht: ein religiös legitimierter Imperialismus und der zivilisatorische Sonderweg Russlands.
Igor Strelkow: Krieger und Prophet
Vor ungefähr einem halben Jahr tauchte in den Wirren des Ukrainekonflikts der prorussische Kommandant Igor Girkin, bekannt unter dem Pseudonym Igor Strelkow, auf. «Strelkow wird im Moment vom Kreml als neue orthodoxe Leitfigur aufgebaut. Und in den rechts-nationalistischen Kreisen ist er bereits zur Kultfigur geworden», meint Schmid. In diesem Kontext werde Neu-Russland als Heiligtum bezeichnet und der Krieger Strelkow als Prophet des Russentums.
Der Slogan auf Strelkows Website lautet: «Für Gott, den Zaren und das Vaterland». Er begründet sein gesamtes militärisches Engagement und den Kampf gegen die Ukrainer mit einer orthodoxen Mission. Gleichzeitig engagieren sich auch orthodoxe Geistliche des Moskauer Patriarchats im Konflikt, indem sie vor Ort mit den russischen Truppen Solidarität bekunden.
Drohender Wirkungsverlust?
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Moskau als Drittes Rom zu bezeichnen, scheint sich als ideale Strategie anzubieten. Der Kreml kann damit sowohl die Expansion als auch die Abgrenzung von Europa legitimieren. Die nationalistisch-orthodoxe Argumentation zeichnet das Bild eines vor Selbstbewusstsein strotzenden Landes, mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung. Auch die Kirche weiss offenbar um die Vorteile der daraus hervorgehenden Staatsnähe.
Doch die wechselseitige Machtstabilisierung erfolgt im Angesicht eines politisch und kulturell näher rückenden Europas. Man reagiert auf eine wahrgenommene Bedrohung und versucht mit allen Mitteln einer möglichen Brüchigkeit des russischen Selbstbewusstseins entgegen zu wirken. Denn die nächste Generation könnte sich mit der nach innen gewandten orthodoxen Bindungskraft womöglich schwerer tun.