Wladimir Putin hat gestern Abend in einem ARD-Interview während 30 Minuten seinen politischen Standpunkt kundgetan. Wie kommt das Gespräch in Deutschland an?
Casper Selg: Das Interview wurde mit grossem Interesse verfolgt – hat aber auch irritiert. Man nimmt zur Kenntnis, dass Putin völlig rational klingt und sehr eloquent argumentiert. Er ist total hart in der Sache geblieben und zeigte sich unnachgiebig. Putin hat im Gespräch erstmals die Intervention in der Krim praktisch zugegeben. Er will sie zwar nicht als völkerrechtswidrig sehen, sondern als einen Schutz der lokalen Bevölkerung, der nötig gewesen sei.
Das Interview wird in Deutschland sehr kritisch aufgenommen.
Was hat die Zuschauer irritiert?
Man sieht einen Widerspruch in Putins Haltung, wonach es einem Volk auch zugestanden werden müsse, selber zu entscheiden. Das steht im Widerspruch zu Putins eigener Position, wenn es um vergleichbare Situationen im inneren Russlands geht. Grundsätzlich wird das Interview in Deutschland sehr kritisch aufgenommen. Gleichzeitig wird aber auch diskutiert, ob Deutschland einen anderen Zugang zu Russland finden müsse Einen Zugang, der den strategischen Interessen Russland etwas mehr Rechnung trägt.
Die deutsche Bundeskanzlerin kritisierte Russland am G20-Gipfel so stark wie noch nie. Deutet sich hier eine neue Haltung Deutschlands an?
Es ist zwar ein neuer Ton, aber in der gleichen Haltung. Deutschland setzt immer noch auf Dialog, weil es einfach keinen anderen Weg gibt, wie Angela Merkel immer wieder betont. Der andere Weg wäre zu gefährlich, er könnte auf Krieg hinauslaufen. Merkel hat nach ihrem vierstündigen Gespräch mit Putin einigermassen ernüchtert und verärgert getönt. Putin trete das Völkerrecht mit Füssen. Das sind Töne, die sie zuvor in dieser Schärfe stets vermieden hatte.
Welche Optionen bleiben der Regierung von Angela Merkel?
Ich glaube, letztlich bleibt nur die allfällige Verschärfung von Sanktionen unter Beibehaltung des Gesprächs. Über die Verschärfung beraten heute auch die EU-Aussenminister. Die Rede ist von neuen Sanktionen gegenüber den Rebellenführern. Doch das wird niemanden in Moskau erschauern lassen.
Merkel und Putin haben einander nie besonders gemocht.
Deutschland steht immer im Zentrum der Diskussion zu diesem Thema, jetzt auch in Brisbane am G20-Gipfel. Wieso eigentlich?
Deutschland ist wirtschaftlich am stärksten von der Sanktionspolitik betroffen – weit mehr als beispielsweise die USA. Neueste Schätzungen besagen, dass im nächsten Jahr 50'000 Arbeitsplätze in Deutschland von den Sanktionen betroffen sein könnten. Hinzu kommt, dass sich Putin und Merkel schon lange kennen. Sie haben einander aber nie besonders gemocht – das wird oft falsch kolportiert. Die beiden verstehen sich aber sprachlich gut, sie spricht russisch – er deutsch. Aber hier liegt auch das Problem: Merkel hat mit Putin schon sehr oft sehr lange geredet. Merkel merkt, sie kommt keinen Zentimeter voran und wird deshalb immer ärgerlicher.
Das Gespräch führte Tina Herren.