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Schichtarbeit: Feierabend am Morgen
Aus Kontext vom 01.09.2023. Bild: SRF / Rob Lewis
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Historikerin über Nachtarbeit «Die Kinderbetreuung ist ein Problem der Schichtarbeit»

Wenn alles rund um die Uhr verfügbar ist, verändert das die Arbeitswelt. Die Schicht- und Nachtarbeit betrifft heute längst nicht mehr nur die Industrie.

Über die physischen und psychischen Folgen der «entgrenzten Arbeitszeiten» forscht die Historikerin Sibylle Marti.

Sibylle Marti

Historikerin

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Sibylle Marti forscht am Historischen Institut der Universität Bern unter anderem zur Geschichte informeller und prekärer Arbeit. Sie ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.

SRF: Seit wann gibt es eigentlich Schichtarbeit?

Sibylle Marti: Sie ist in der Frühphase der Industrialisierung entstanden. Unternehmen wollten ihre Investitionen in die Fabriken und in die Maschinen möglichst profitabel gestalten. Das hat dazu geführt, dass sie die Betriebszeiten massiv ausgeweitet haben. Schichtarbeit bedeutet in erster Linie, den Arbeitstag in die Nacht hinein auszudehnen. Das bedingt künstliches Licht, elektrisches Licht.

Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco arbeiten ungefähr 20 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz Schicht, etwa 750’000 Personen. Zur Industrie sind also andere Branchen dazugekommen?

Wir haben seit den 1970er-/80er-Jahren grundsätzlich einen Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Auch da gibt es viel Schichtarbeit. Ungefähr seit den 1980er-Jahren hat sich die Arbeitswelt zudem allgemein flexibilisiert. Arbeitszeitmodelle beinhalten nun oft nicht nur klassische Schicht- und Nachtarbeit, sondern generell entgrenztere Arbeitszeiten.

Man arbeitet in die Nacht hinein und am Wochenende.

Zum Beispiel Computerarbeit zu Hause?

Ja, und auch die ganze Plattformökonomie, bei der sich die Kundinnen und Anbieter im Internet treffen und Dienstleistungen beziehen. Das kann sogar über verschiedene Zeitzonen hinweg passieren und bewirkt, dass sich die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit verschiebt oder dass diese sogar verschwindet. Man arbeitet in die Nacht hinein und am Wochenende.

Betrifft Schichtarbeit eher den nichtakademischen und den Niedriglohnsektor?

Hier muss man differenzieren. Im Niedriglohnbereich arbeiten viele Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund, etwa in der Reinigung, im Verkauf, in der Gastronomie, in der Logistik, im Sortierzentrum der Post. Diese Schicht- und Nachtarbeit ist weit verbreitet und mit gesellschaftlichen Hierarchien verbunden: Geschlecht, Herkunft und Klasse sind hier wichtig.

Es gibt jedoch auch das Phänomen der ständigen Erreichbarkeit, das Leute in hoch qualifizierten Berufen ebenfalls betrifft.

Welche Vor- und Nachteile hat die Schichtarbeit für die Arbeitnehmenden?

Schichtarbeit ist physisch und psychisch anstrengend. Man ist ausgeschlossen vom sozialen Leben, weil man oft arbeitet, wenn andere frei haben. Gleichzeitig gibt es natürlich Menschen, die die Schichtarbeit schätzen, weil sie Abwechslung bietet und zum Teil eine freiere Zeiteinteilung ermöglicht.

Frau mit schwarzer Kleidung an einer Mauer angelehnt vor einem Eingang.
Legende: Wie lässt sich Schichtarbeit humaner gestalten? Solche Fragen beschäftigen die Historikerin Sibylle Marti. SRF / Rob Lewis

Wenn man Kinder hat, wird es schwieriger mit der Schichtarbeit?

Genau. Die Kinderbetreuung ist ein Problem der Schichtarbeit. Das wird aktuell im Zusammenhang mit dem Pflegenotstand stark diskutiert. In der Pflege arbeiten viele Frauen. Viele davon werden einmal Mütter. Automatisch fragt sich dann, wie dieser Beruf kompatibel ist mit der Care-Arbeit, die Frauen als Mütter leisten.

Die zwei Personen, die ich ausführlich befragt habe, leisten gerne Schichtarbeit. Können Sie das nachvollziehen?

Ja. Die Frage ist: Ermöglicht mir Schichtarbeit einen Autonomiegewinn und mehr Freiheit? Wir müssen feststellen, dass das für viele Menschen nicht so ist. In den 70er- und 80er-Jahren gab es eine Debatte über die Humanisierung der Arbeit. Das war gegen Ende der Hochkonjunktur, als viele Beschäftigte einen Wohlstandsgewinn erlebt hatten und sozial aufgestiegen waren.

Es ist nicht zwingend notwendig, dass jeder Laden um die Ecke von 6 bis 22 Uhr geöffnet hat.

Was waren die Forderungen?

Die Gewerkschaften und generell die Beschäftigten wollten nicht mehr nur klassische Gewerkschaftsanliegen wie Arbeitszeitverkürzung oder mehr Lohn weitertreiben – sondern auch die Qualität der Arbeit verbessern. Man hat darüber nachgedacht, wie sich Schicht- und Nachtarbeit humaner gestalten lassen, um die Probleme etwas abzufedern.

Wird heute aus Ihrer Sicht genug über Schichtarbeit gesprochen?

Man steckt stark in einem Optimierungsdiskurs, der darauf abzielt, die gesundheitsschädigenden Folgen der Schichtarbeit zu reduzieren, um die Arbeitskraft zu erhalten. Natürlich leben wir in einer Gesellschaft, die nicht ohne Schichtarbeit auskommt. Etwa bei den Berufen, die wir während der Pandemie als systemrelevant bezeichnet haben.

Mein Eindruck ist jedoch, dass man die Grundfrage selten stellt: Was für eine Gesellschaft wollen wir? Es ist immer die Rede von der 24-Stunden-Gesellschaft, also dass bestimmte Dienstleistungen und Angebote rund um die Uhr verfügbar sind. Aber es ist nicht zwingend notwendig, dass jeder Laden um die Ecke von 6 bis 22 Uhr geöffnet hat.

Das Gespräch führte Raphael Zehnder.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 1.9.2023, 9:03 Uhr ; 

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