Seit mehr als einem Jahr befindet sich die Welt kollektiv im Krisenmodus. Die Corona-Krise ist ein Stresstest. Dennoch bleibe selbst den grössten Pessimisten die Hoffnung, sagt der Theologe und Philosoph Hartmut von Sass.
SRF: Ein Jahr Corona: Das Virus kann man nicht wirklich als «Unrecht» bezeichnen, wie Sie es z.B. bei den Anschlägen vom 11. September taten. Ist Hoffnung als Haltung trotzdem angebracht?
Hartmut von Sass: Viren und Pandemien fallen unter die Übel der Welt – im Gegensatz zum Bösen, das sich einem entsprechenden Willen verdankt. Die Möglichkeit der Hoffnung ist jedoch unabhängig davon, ob es sich um Übel jenseits einer bestimmten Absicht oder um böse Intentionen handelt.
Hoffnung ist keine selbstverständliche Haltung.
In beiden Fällen, einer Natur- und einer Kulturkatastrophe, ist Hoffnung nicht nur möglich, sondern kann eine angemessene, gar wünschenswerte und zugleich überhaupt nicht selbstverständliche «Haltung» sein – gerade angesichts der drohenden Verzweiflung.
Sie zitieren gerne den Autor Terry Eagleton («Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch»): «Man kann alles andere als optimistisch sein und trotzdem entschieden hoffnungsvoll». Was bedeutet das?
Hoffnung und Optimismus sind zu unterscheiden, wie das folgende Beispiel zeigt: Wenn ihr Freund eine niederschmetternde Krebsdiagnose erhält, ist Optimismus kaum angebracht; wenn sie «guter Dinge» waren, müssen sie angesichts dieser Fakten ihre Haltung ändern.
Sind Sie deshalb auch gezwungen, ihre Hoffnung aufzugeben? Nein, gerade nicht! Hoffnung ist nicht nur mit Pessimismus vereinbar, sondern gerade dem Pessimisten bleibt die Hoffnung.
Optimisten sehen die Möglichkeiten angesichts bestimmter Wahrscheinlichkeiten. Hoffende konzentrieren sich auf die Möglichkeiten und können von jenen Wahrscheinlichkeiten absehen, ohne dass dies blindes Hoffen sein müsste.
Ist Hoffnung ein wirksamer Schutzmechanismus gegen Verzweiflung?
Hoffnung kann proaktiv gegen Verzweiflung schützen. Sie kann aber auch verspätet auf schon eingetretene Verzweiflung treffen und diese lindern.
Gerade den Pessimisten bleibt die Hoffnung.
Zuweilen braucht es sogar die Verzweiflung, um zur Hoffnung finden zu können.
Gerade das Neue Testament kennt diese spannungsreiche Vorstellung einer durch das Verzweifeln und das Aussichtslose hindurchführenden Hoffnung.
Was sollen Menschen tun, die während einer Krise wie der jetzigen jegliche Hoffnung verlieren?
Erfahrungen, gute wie schlimme, gehören stets einem Kontext, einem Narrativ an, innerhalb dessen das einzelne Erleben integriert wird. Jene Erfahrungen können wir oftmals nicht beeinflussen – sie kommen über uns. Was wir jedoch zumindest in Teilen tun können ist, sie in einen Rahmen einzubeziehen, der sie neu verstehen lässt.
Die Pandemie könnte man etwa als ein grosses Experiment auffassen, das wir uns zwar nicht ausgesucht haben, zu dem wir uns aber verhalten müssen. Eine experimentelle Haltung versetzt uns in eine konstruktivere Rolle, die Erkenntnisse ermöglicht. Und diese könnten wir noch sehr gut gebrauchen, denn die nächste Pandemie kommt bestimmt und bald.
Ist Hoffen für gläubige Menschen einfacher als für Atheisten?
Ja, das Hoffen ist für den Glaubenden einfacher. Und zwar, weil beides notwendig miteinander verbunden ist: Wer glaubt, hofft bereits. Umgekehrt formuliert: Es wäre ganz seltsam, sich als Glaubende zu verstehen, aber ohne Hoffnung durchs Leben zu gehen.
Das Gespräch führte Christine Schulthess.