Als Donald Trump gewählt wurde, schrieb die deutsche Philosophin und Publizistin Carolin Emcke zum ersten Mal Tagebuch. Als Corona ausbrach, nahm sie den Faden wieder auf.
Aus diesen Aufzeichnungen ist «Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie» entstanden, ein persönlicher und politischer Rückblick auf ein bewegtes Jahr. Und jetzt, Frau Emcke? Die Friedenspreisträgerin über Trauer in Zeiten von Corona und die Grenzen von Solidarität.
SRF: Die Schweiz hat eine der höchsten Corona-Todesraten weltweit. Aber die Toten selbst kommen im öffentlichen Bewusstsein kaum vor. Gespenstisch?
Carolin Emcke: Absolut. Es ist schon fast ein Automatismus. Sagt man, man kenne Menschen, die an Covid-19 gestorben sind, kommt reflexartig die Frage nach dem Alter der Toten.
Nennt man ein höheres Alter, heisst es: «Ach so, dann…». Es wird nicht kondoliert, sondern die Bedrohlichkeit für einen selbst abgemessen. Ich frage mich, wann unsere Gesellschaften sich diesen Verzicht auf Kondolenz eigentlich beigebracht haben.
Vielleicht hätten wir in dieser Krise in den Lokalnachrichten jeden Morgen die Namen der Verstorbenen nennen sollen.
Ginge es auch anders?
Ich kenne es aus ärmeren Gegenden der Welt. Wo die Angehörigen Todesanzeigen oft einfach als Zettel mit einem Foto der Verstorbenen an Bäumen oder Laternen aufhängen, um die Nachbarn zu informieren.
Vielleicht hätten wir in dieser Krise in den Lokalnachrichten jeden Morgen die Namen der Verstorbenen nennen sollen: «Lebte zusammen mit…», «Hatte drei Kinder…», «War Erzieher…», «War Arbeiter im Betriebswerk xy…».
Man hätte den Menschen, die da gestorben sind, eine öffentliche Hörbarkeit, eine gemeinschaftliche Präsenz geben können.
Möglicherweise wären die einzelnen Toten so viel mehr zu unserer eigenen Sache geworden. Wir hätten sie uns als Personen deutlicher vorstellen können. Anders als bei blossen Zahlen, hätten wir eine grössere Möglichkeit zur Empathie gehabt.
Ich würde vielmehr betonen, wie bald nach Ausbruch der Pandemie der Rückzug aufs Nationale und in immer engere Lebensräume einsetzte.
Sie haben in Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung ein Corona-Tagebuch geschrieben. Was würden Sie rückblickend anders einschätzen?
Ich würde vielleicht die hoffnungsvollen Aspekte zu Beginn der Pandemie anders gewichten.
Die plötzliche Betonung des sozialen Bandes in unseren Gesellschaften würde ich heute nicht mehr so sehr als Resultat eines veränderten politischen Diskurses oder eines veränderten demokratischen Selbstverständnisses sehen.
Ich würde vielmehr betonen, wie bald nach Ausbruch der Pandemie der Rückzug aufs Nationale und in immer engere Lebensräume einsetzte. Die erzwungene Provinzialität und der erzwungene Autofokus sind beunruhigend.
Daher würde ich heute fordern, dass wir die anfängliche Solidarität bitte nicht vergessen.
Eine Krise ist immer auch ein Brennglas. Was zeigt sich unter diesem Glas am deutlichsten für Sie?
Drei Dinge: die Folgen der wechselseitigen Verwundbarkeit, die Auswirkungen des neoliberalen Abbaus staatlicher Schutzfunktionen und der Umstand, dass Zeit eine existentielle Währung ist.
Wir haben in der Pandemie gelernt, wissenschaftliche Modellierungen zu lesen, die uns vorhersagen, was beim Eintreten eines bestimmten Ereignisses in den nächsten Wochen und Monaten als Konsequenz folgen würde. Nicht, dass die Regierungen immer danach gehandelt hätten.
Aber zumindest ist diese Art von Erkennen von Dringlichkeit und verlorener Zeit, etwas, was uns in den letzten Monaten gezeigt worden ist. Es ist genau dieses Denken ins «Noch nicht», das wir für die Klimakrise brauchen.