Kein Theater ist gleich wie das andere. Deshalb gibt es kein allgemein gültiges Rezept, wie eine Bühne digital werden kann. Die Herausforderungen sind ganz unterschiedlich. Eine Gemeinsamkeit jedoch hatten im Frühling 2020 die meisten Theater: Sie mussten bei Null beginnen. Kaum ein Haus hatte Erfahrung mit der «digitalen Bühne».
Live-Streaming als erster Rettungsanker
Gisela Nyfeler arbeitet im Bereich Theater als freischaffende Regisseurin und Dramaturgin und leitet die Schweizer Künstlerbörse. Ihre Beobachtung: Im ersten Shutdown entdeckten Theater, dass Aufnahmen früherer Stücke «herumliegen». Die wurden dann auf einer Plattform zum Streaming angeboten. Andere streamten live die laufende Vorführungen ohne Publikum.
Die meisten hörten damit im Sommer aber bereits wieder auf. Sie hofften, dass nun alles wieder «normal» werde, das Publikum wieder kommen dürfe und das so bleibe. Eine trügerische Hoffnung. Im Herbst war erneut kein Publikum mehr erlaubt im Saal.
Streaming ist anstrengend für Zuschauer
Nicht alle Häuser führten ihre Streaming-Experimente weiter, denn sie hätten sich nicht bewährt, so Gisela Nyffeler. «Man sieht einfach das, was eine Kamera sieht, die im Saal an einem Platz aufgestellt ist.» Als Zuschauer vor dem Monitor könne man dabei nicht das Auge schweifen lassen durch den ganzen Raum – der Blick bleibt starr auf die Bühne gerichtet.
Diese frontale Einstellung ist für normale Zuschauer sehr anstrengend, ermüdend und macht es schwer, sich zu konzentrieren über längere Zeit. Übertragungen einer Vorführung, die eigentlich für Publikum vor Ort dramaturgisch entwickelt wurde, eignen sich deshalb nur für Archiv-Zwecke oder für ein Experten-Publikum, Intendanten etwa, denen ein Schauspieler sein Können zeigen möchte.
Kleine Theater sind flexibler
Tot sei Streaming deswegen aber nicht. Nur müsse es über eine 1:1-Live-Übertragung eines Stückes hinausgehen, müsse angepasst werden für die neue Seh-Situation des Publikums. Das ist eine Herausforderung - gerade für grössere Häuser mit oft jahrelangen Vorlaufzeiten.
Kleinere Theater sind flexibler. Sie begannen, ihre Stücke anzupassen oder speziell Stücke zu entwickeln für die «digitale Bühne», hybride Formate, die auch funktionieren sollen, wenn wieder Publikum im Saal sein darf.
Neue Formen müssen her
Die freie Theatergruppe «Schauplatz International» etwa hat vor kurzem im Berner Schlachthaus Theater das Experiment «digitale Bühne» gewagt. Im Stück «Chalet Utah» spielten die beiden Schauspieler zwei Polizistinnen, die Verdächtige eines Verbrechens verhören.
70 Minuten lang sprechen sie dazu in eine Kamera, die auf der Bühne steht und beweglich ist, beispielsweise auf den Kopf gestellt werden kann. Die Verdächtigen sind unsichtbar und befinden sich quasi auf der «anderen Seite» der Kamera - genau wie die Zuschauer. Sie bekommen die Verdächtigen nur zu Gesicht, wenn die Polizisten Fotos von ihnen in die Kamera halten.
Wenn wieder Publikum in den Saal darf, soll der Stream beibehalten werden. Dann können sowohl Menschen vor Ort im Theater und jene zu Hause das Stück gemeinsam erleben.
Konsequent digital: Theater wie ein Computerspiel
So innovativ «Chalet Utah» ist: Auch dieses Stück versucht nur, möglichst clever die klassische Bühnensituation auf eine «digitale Bühne» zu transferieren. Gisela Nyfeler denkt, das Theater könne durchaus noch digitaler werden und vermehrt «digitale Welten» erkunden.
Vorbild sind ihr Computerspiele. Wenn sie beispielsweise «Fortnite» spielt, denke sie oft, dass man eigentlich Theater machen könnte in einer rein virtuellen Welt, ein «Welten-Theater» in einem Game. Das wäre dann wirklich konsequent digital. Die Schauspieler würden sich nicht mehr auf einer physischen Bühne treffen – sondern auf einer Virtuellen.
Oder zurück in die Vergangenheit?
«Ich denke, hier ist unsere Szene noch nicht so angekommen», sagt Gisela Nyfeler. Sie selber hat vor kurzem eine Vorführung konzipiert, die eher rück-, denn vorwärtsgewandt ist. Das Live-Hörspiel «Auf dem Sofa mit Viktor Frankenstein» lag ganz in der Tradition der 1920er-Jahre, als die Radio-Pioniere Hörspiele live sendeten, weil es noch keine Möglichkeiten gab, diese aufzuzeichnen.
Und wieso hat sie kein Live-Theater gemacht, sondern Audio? «Viele Menschen sitzen derzeit die ganze Zeit vor dem Computer, sind via Zoom an Sitzungen mit dabei - da mag man am Abend nicht auch nochmals auf den Bildschirm starren», meint die Regisseurin. «Hör-Theater» sei deshalb derzeit sehr angesagt als neue, alte Form eines Bühnenstücks.