Das Bistro, in dem wir uns verabredet haben, passt Pawel Filatjew nicht. Ein Cidre und dann will er wieder weg. Ganz sicher fühlt sich der desertierte russische Unteroffizier in Paris nicht. In Kiew wurde einem russischen Aussteiger der Kopf zertrümmert.
«Putin, fick dich!» hatte Filatjew dem russischen Präsidenten in einem Video wütend entgegengeschleudert, als er auf dem Flughafen Paris gelandet war. Nicht nur deshalb lebt der 34-Jährige auch hier gefährlich.
«Niemand hatte geahnt, dass ein Krieg beginnen würde»
«ZOV – Der verbotene Bericht» heisst Filatjews Buch, ein Insiderbericht aus dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Darin liefert er brisante Einblicke in den Kriegsalltag.
Pawel Filatjew war Fallschirmjäger des 56. Luftsturmregiments der russischen Armee. Am 20. Februar bekommt seine Einheit den Befehl, mit leichtem Gepäck loszufahren. Niemand, versichert er, habe geahnt, dass am 24. Februar ein Krieg beginnen würde.
Empört ist Filatjew bis heute darüber, dass die russischen Soldaten schlecht ausgerüstet in den Krieg geschickt wurden. Es fehlte an allem – sogar Schlafsäcke waren Mangelware.
«Wir retten niemanden»
Filatjew ist in einer Soldatenfamilie aufgewachsen. Das 56. Luftsturmregiment sei sein «Zuhause» gewesen, erzählt er stolz. Aber all die Ungeheuerlichkeiten dieses Krieges haben ihn umgehauen: Der Elitesoldat sass auf Kisten voller Minen in einem Laster, der keine Bremsen hatte und während der «militärischen Spezialoperation» in einen Gartenzaun krachte. Funk gab es auch nicht.
«So eine Armee braucht keinen Gegner, wir machen uns selbst fertig», resümiert der Ex-Soldat in seinem Buch. Am schwersten wog die Brutalität gegen wehrlose Zivilistinnen und Zvivilisten. Schnell wurde Filatjew klar: «Wir retten niemanden. Wir führen einfach nur Krieg gegen friedliche Städte.»
«Das war der Wendepunkt»
Nach zwei Monaten Krieg wird Pawel Filatjew Mitte April wegen einer schweren Augenentzündung auf die Krim zurücktransportiert. «Das war der Wendepunkt. Sonst wäre ich aufgrund meines dummen Patriotismus bis heute in der Ukraine.»
Aufgrund der Verkommenheit der Armee, der Kaltschnäuzigkeit seiner Vorgesetzten und der prinzipiellen Verlogenheit in diesem Krieg, fasste er den Entschluss, nicht weiterzukämpfen. Wütend tippt er seine Erlebnisse ins Smartphone. Es werden 141 Seiten voller Empörung, Entsetzen, Hass, Wut und Fassungslosigkeit.
Der eigentliche Gegner in diesem Krieg, so liest man in «ZOV», sei die russische Gleichgültigkeit gegenüber Menschen. Filatjew hatte im Sommer bei Putin persönlich um Entlassung aus der Armee gebeten. Man drohte ihm mit Gefängnis.
«Ich wollte den Leuten zeigen, was Krieg bedeutet»
Daraufhin stellte Filatjew seinen Bericht über die «moralisch verrottete» russische Truppe online. Über 600'000 Mal wurde er aufgerufen. «Ich wollte den Leuten zeigen, was Krieg bedeutet». Dafür bezahlt man in Russland einen hohen Preis. Es beginnt eine abenteuerliche Flucht über Belarus, die Türkei und Tunesien, bis der Ex-Soldat in Frankreich landet.
Den Erlös aus seinen Büchern will Filatjew Ukrainerinnen und Ukrainern zukommen lassen. Möglichst in der Region Cherson, wo er selbst gekämpft hat. «Ich möchte jemandem helfen, der seine Heimat verloren hat. Ich weiss nun, wie schwer es wiegt, wenn man kein Zuhause mehr hat.»