Der Kreml dreht an der Eskalationsschraube bei seinem Angriffskrieg in der Ukraine. Was der eigenen Bevölkerung lange als «Spezialoperation» verkauft wurde und damit weit weg schien, ist plötzlich ganz nah. Mit dem Raketenhagel auf ukrainische Städte steigt bei den Russinnen und Russen die Verunsicherung – ebenso die Furcht, eingezogen zu werden.
Hunderttausende Russen sind seit der Teilmobilmachung vor rund drei Wochen geflüchtet, damit sie nicht in den Krieg ziehen müssen. Andere desertieren. Doch was passiert mit Soldaten, die mitten im Kriegsgebiet sind und nicht mehr wollen?
Das Gesetz des Krieges
Eine allgemeingültige Antwort darauf gibt es nicht. «Denn es kommt ganz darauf an, wer sie sozusagen einfängt und dann in Gefangenschaft bringt», erklärt der Militärexperte und Historiker Michael Wolffsohn.
Das Gesetz des Krieges heisst Brutalität und Unmenschlichkeit.
Geraten sie in die Hände der Ukrainer, dürften diese kaum Interesse daran haben, russische Deserteure lange in Gefangenschaft zu halten. «Es sei denn, es sind Täter. Doch das Gesetz des Krieges heisst Brutalität und Unmenschlichkeit – und auch auf der Seite, die eigentlich politisch Menschlichkeit repräsentiert, sind Unmenschlichkeiten alles andere als auszuschliessen», sagt Wolffsohn.
Auf Gnade oder Menschlichkeit zu hoffen, dürfte im anderen Fall ohnehin vergebens sein: Werden die Russen desertierten Soldaten habhaft, drohen drakonische Strafen. «Es ist mit schlimmster Rache zu rechnen», formuliert es Wolffsohn drastisch. Bei russischen Soldaten, die nicht mehr kämpfen wollen, grassiert Angst: Ergebe ich mich, könnte ich im Rahmen eines Gefangenaustauschs wieder nach Russland ausgeliefert werden.
Wer in Kriegsgefangenschaft des Gegners gerät, muss mit harten Haftbedingungen rechnen – so auch in der Ukraine. Zunächst werden Deserteure in Lagern untergebracht. «Sanatorien-Aufenthalte sehen anders aus», sagt der Militärhistoriker trocken. Diese Lager sind meist improvisiert und kommen oft ohne den «Komfort» regulärer Haftanstalten aus.
Russland seinerseits hat eine beklemmende Geschichte, wenn es um Straf- und Arbeitslager geht, in denen auch Deserteure untergebracht wurden.
Mit Blick auf Putins Russland sagt Wolfssohn: «Die politischen Vorgaben sind mit der Überschrift ‹Unmenschlichkeit und Rache› zusammenzufassen.»
Ethische Grundsatzfrage
Die Geschichte lehrt: Auch nach Kriegsende werden Kriegsgefangene und Deserteure in vielen Fällen nicht einfach freigelassen. Der Historiker erinnert an das Schicksal deutscher Kriegsgefangener nach dem Zweiten Weltkrieg, von denen die letzten erst 1955 aus sowjetischen Lagern in ihre Heimat zurückkehren konnten.
Wer desertiert, stellt sein eigenes Leben über das der anderen, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, zu desertieren. Das ist eine ethisch höchst zweischneidige Angelegenheit.
«Völlig unschuldige Menschen sassen damals jahrelang in Lagern», erinnert Wolfssohn. Und sagt mit Blick auf den Ukraine-Krieg: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kriegsgefangene nun unter russischen Vorzeichen pfleglich behandelt und schnell freigelassen werden.» Dies gelte wegen des «wechselseitigen Hasses» auch für die ukrainische Seite.
Abschliessend macht der Militärhistoriker auf eine ethische Grundsatzfrage aufmerksam: Desertieren kann im individuellen Fall nachvollziehbar, aber kollektiv problematisch sein. «Wer desertiert, stellt sein eigenes Leben über das der anderen, die nicht in der Lage oder willens sind, zu desertieren. Das ist eine ethisch höchst zweischneidige Angelegenheit.»