Russland hat nach offiziellen Angaben aus Kiew am Montag 75 Raketen auf verschiedene Städte der Ukraine abgefeuert. Bereits nach dem mutmasslichen Anschlag auf die Kertsch-Brücke auf der Krim vom letzten Samstag seien Verunsicherung und Angst der Menschen in Moskau weiter gestiegen, berichtet Korrespondentin Inna Hartwich.
SRF News: Raketen auf verschiedene ukrainische Städte, eine Explosion auf russischem Gebiet nahe Belgorod – wie wird darüber in Russland berichtet?
Inna Hartwich: Die Kanäle des Staatsfernsehens berichten mit keinem Wort über die Angriffe auf die gesamte Ukraine. In den Telegram-Kanälen wird natürlich sehr viel berichtet und Bilder werden gesendet. Allerdings hat Telegram in Russland am Montag ein Problem, denn die Videos können zum Teil nicht abgerufen werden.
Wie ist die Gefühlslage in Moskau in diesen Tagen?
Die Stimmung ist sehr unruhig. Seit Putin die Teilmobilmachung ausgerufen hat, die jeder hier faktisch als Generalmobilmachung versteht, ist der Krieg in jedes russische Wohnzimmer gezogen.
Die Menschen haben Angst und versuchen immer noch, ihre Söhne, Brüder und Ehemänner davon zu überzeugen, wegzugehen und sich zu verstecken, wenn sie es noch nicht getan haben. Es wird auch öffentlich im Park und beim Einkaufen darüber gesprochen. In den letzten sieben Monaten sprach kaum jemand über diesen Krieg. Das hat sich seit Ausrufung der Teilmobilmachung geändert.
In Russland selbst können sich die Menschen nur verstecken.
Wie versuchen die Männer, den Rekrutierungen zu entgehen?
Zum Teil verlassen sie ihre Wohnungen nicht mehr, machen die Tür nicht auf. Andere ziehen auf eine weit entfernte Datscha, damit sie der Einberufungsbefehl gar nicht erreichen kann. Wieder andere verlassen das Land, wobei das immer schwieriger wird, da sie zum Teil bereits an der russischen Grenze und später an der ausländischen Grenze zurückgewiesen werden. In Russland selbst können sich die Menschen nur verstecken.
Sie waren bei Rekrutierungszentren. Was haben Sie dort erlebt?
Ganz dramatische Szenen. Beim Stadtmuseum von Moskau wurden vor einigen Tagen die Einberufungsstellen für drei Stadtteile eingerichtet. Sie werden von schwer bewaffneten Polizisten bewacht. Einlass erhält nur, wer den Einberufungsbescheid hat. Die Angehörigen bleiben im Hof sitzen und warten, was passiert. Viele sind verweint und sehr unruhig. Andere rufen weinend Angehörige an und erzählen, dass sie nicht wissen, ob ihre Söhne gleich mitgenommen werden.
Sie hatten ein paar Sekunden, um sich zu verabschieden. Dann war der Ehemann weg.
Männer werden zum Teil mit Bussen direkt in Trainingscamps abtransportiert. Ein Mann etwa, der nur eine Untauglichkeitsbescheinigung vom Arzt abgeben wollte, kam aufgelöst aus der Rekrutierungsstelle. Die Kommission befand anders, und er zeigte seiner Frau das Dienstbüchlein mit der Einberufung. Sie hatten ein paar Sekunden, um sich zu verabschieden. Dann war der Ehemann weg.
Offensichtlich spricht man nun auch öffentlich darüber, wie man den Rekrutierungen entgehen kann. Entsteht eine Form von Widerstand?
Es gab vor allem nach der Ausrufung der Teilmobilmachung relativ viel Widerstand. Es gingen auch Frauen auf die Strasse, um ihre Männer und Söhne zu retten. Allerdings ist dieser Staat sehr repressiv und hat genügend Methoden, den Menschen Angst einzujagen. Dadurch wurde der öffentliche Widerstand rasch kleiner. Der Widerstand drückt sich eher dadurch aus, dass Hunderttausende das Land verlassen.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.